Tag 10, 4. März 2019: Murmansk – 60 km südlich von Petrozadovsk

Gefahrene Kilometer: 996
Fahrzeit: 14 Stunden
Landesgrenzen: keine
Temperatur am Zielort: -11° C

Murmansk – geheimnisvolles Murmansk! Die einst von der Außenwelt abgeriegelte Hochburg der russischen Nordmeerflotte steckt auch heute noch voller Mysterien. Das geht schon bei der Uhrzeit los, die an diesem Morgen im Team für Verwirrung sorgt. Denn unsere Handys und Uhren liefern widersprüchliche Angaben: Marcel und ich haben uns den Wecker so gestellt, dass wir um 7 wie verabredet vor dem Appartement der Anderen stehen. Doch aus selbigem vernehmen wir, als wir – pünktlich – an die Tür klopfen, nur selig-sägendes Schnarchen. Unser erst vorsichtiges, dann energischeres Rufen bleibt zunächst unerwidert. Bis es schließlich in wütenden Zischlauten nach draußen schallt: „Spinnt Ihr? Wir haben doch erst 6! Haut ab, wir wollen noch schlafen!“ Marcels zaghafter Einwand, dass es auf unserer Uhr schon 7 und Russland im Vergleich zu Finnland zeitzonentechnisch eine Stunde weiter sei, wird mit einem unwirschen „kann nicht sein, mein Handy ist im Internet, das hätte sich automatisch umgestellt“ beantwortet. Etwas bedröppelt begeben wir uns zurück in unser Zimmer. Da haben wir uns die Nacht doch tatsächlich kürzer gemacht, als sie ohnehin gewesen wäre. Uns wird zwar schnell klar, dass eigentlich nur unsere Uhrzeit stimmen kann und die der Anderen falsch sein muss – aber auf eine Intervention zu verzichten, fällt uns nicht weiter schwer. Wer sagt schon Nein, wenn er unverhofft eine Stunde Schlaf geschenkt bekommt?


Besagte Stunde später, Ortszeit 8, Barney-Zeit 7 Uhr, wagen wir einen zweiten Versuch. Dieses Mal sind tatsächlich alle wach und wir marschieren gemeinsam die Treppen aus dem vierten Stock des Plattenbaus hinunter in den Innenhof zu unseren Autos. Im Treppenhaus bleibt mein Blick für ein paar Sekunden am dort installierten Müllschlucker hängen – einem ´vertikalen Tunnel durchs ganze Haus, mit Klappluken auf jedem Stockwerk, durch die man auf elegante Weise seinen Müll loswerden kann. Klassischer Fall von „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Sowas kannte ich bis jetzt nur aus Erzählungen.
Mittlerweile hat sich auch beim Rest des Teams die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir mal wieder eine Stunde später als geplant in den Tag gestartet sind. Deshalb, und weil außer Marcel und mir noch niemand wirklich etwas von Murmansk gesehen hat, beschließen wir kurzerhand, die Uhrzeit ab sofort komplett zu ignorieren. Denn was wäre ein Tag ohne ordentliches Frühstück?


Wir hüpfen die „Stäffeles“ talwärts in die City (fast wie in Stuttgart, nur dass es dort im Kessel kein Meer gibt), kehren im erstbesten Laden ein, der uns vor die Füße stolpert – und wähnen uns plötzlich mittendrin in einem Schlaraffenland der russischen Küche. Hier gibt es fast nichts, was es nicht gibt. Von süßem Gebäck und sahnefetten Kuchen über herzhafte Kartoffeltaschen, Krabbensalat, Krautwickel und Wurst bis hin zu den Klassikern Soljanka, Pelmeni und Vareniki erstreckt sich das Angebot – über sage und schreibe vier Ladentheken. Jede natürlich, typisch russisch, mit eigenem Personal, obwohl im Café selbst überhaupt nichts los ist. Umso besser für uns! Wir bestellen euphorisch rauf und runter, ohne genau zu wissen, was wir uns da alles auf die Teller laden lassen. Aber enttäuscht werden wir nicht: es schmeckt, macht satt und hält mit Sicherheit lange vor, denn die russische Küche ist ziemlich deftig. Da hat der Magen garantiert ’ne Weile dran zu knabbern!


Mit latent überdehnten Bäuchen erkunden wir im Anschluss Murmansk im Hellen. Wir stehen gerade auf der Fußgängerbrücke, die direkt über den Güterbahnhof führt, als plötzlich ein lauter Schlag mit Wucht die Szenerie durchschneidet. Wir zucken zusammen. Was war das denn? Ein prüfender Blick nach unten auf die Gleise liefert Aufschluss: Die lassen da unten einfach reihenweise die leeren Kohlewaggons aufeinander krachen – mit voller Absicht! Krass. So kann man natürlich auch rangieren. Ob die das immer so machen? Der Umstand, dass sich außer uns niemand über diese rustikale Praktik zu wundern scheint, lässt es zumindest stark vermuten.
Den Lärm noch in den Knochen, begeben wir uns nach einem kurzen Besuch des Eisbrechers „Lenin“ in ein Einkaufszentrum, wo wir kräftig auf Shoppingtour gehen: Mützen, Handschuhe und Kaffee gehen über die Ladentheken, und wir sorgen offenbar für so viel Umsatz, dass man uns die Dreckspur, die unsere matschgetränkten Schuhe auf den Fliesen hinter sich herziehen, gerne verzeiht.


Dann aber beeilen wir uns, schnellstmöglich zurück in die Autos zu kommen. Mittlerweile ist es fast Mittag, und wir sind immer noch in Murmansk. Jetzt wird es ernst, denn unser Ziel heute ist so ambitioniert wie eindeutig: Wir wollen so weit es nur geht nach Süden fahren, um uns so morgen möglichst viel Zeit in St. Petersburg zu erkaufen. Denn von Murmansk bis hinab ins alte Leningrad sind es rund 1300 Kilometer. Eine Menge Holz – zumal auf russischen Straßen. Die eigentlich geplante Stippvisite bei den Atom-U-Booten in Seweromorsk haben wir daher schon gestern aus dem Programm gestrichen – dafür haben wir an der Grenze einfach zu viel Zeit verloren. Der Rest des Tages besteht somit nur noch aus Fahren, Fahren, Fahren.


Schier unendlich spannt sich die Schnellstraße E105 in den nächsten Stunden vor uns auf und führt uns mitten durch die Republik Karelia mit ihren 66000 Seen. Kilometerweit geht es einfach nur geradeaus. Wir rauschen vorbei an Nadelwäldern, Schnee und Seen, Nadelwäldern, Schnee und Seen, Nadelwäldern, Schnee und Seen, Nadelwäldern, Schnee und Seen… Kein Wunder: Die Republik Karelien besteht zu 49 Prozent aus Wald und zu über einem Viertel aus Wasser. Dazwischen Stromleitungen und versprengte Tankstellen als rettende Benzinoasen mitten in der Einöde. Hier sagen sich Elch und Bär gute Nacht.


Ein heiß dampfender See zur Rechten zieht plötzlich unsere Blicke auf sich. Hier pumpt wohl das Kernkraftwerk Kola sein verbrauchtes Kühlwasser hinein und hält den See so konstant warm, während alle anderen Gewässer ringsherum vollkommen zugefroren sind. Ziemlich unheimlich… Ansonsten jedoch sind Reize für Hirn und Augen heute selten, dafür überrascht uns die E105 mit freier Fahrbahn und guter Konstitution. Die Kilometerangaben auf den Schildern scheinen die Distanz nach St. Petersburg trotzdem wie Kaugummi zu dehnen. Erst dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis aus vierstelligen endlich dreistellige Zahlen werden. Dann legen wir laut dem nächsten Schild in 30 Minuten trotz Tempo 100 angeblich nur acht Kilometer zurück.


Doch so leicht lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen. Wir tanken nochmal voll, Stunden später ein weiteres Mal, wechseln im Dreistundentakt die Fahrer – und scheren nach fast 1000 Kilometern und 14 Stunden Reisezeit um 2 Uhr Nachts total ermattet auf einem verschneiten Waldparkplatz zum Übernachten aus. Wir sind zufrieden: Der automobile Gewaltmarsch hat uns bis auf 300 Kilometer an St. Petersburg herangebracht. Den Rest erledigen wir morgen doch mit links!

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