Tag 14, 8. März 2019: Riga – Kaliningrad (Russland)

Gefahrene Kilometer: 414
Fahrzeit: 11,5 Stunden
Landesgrenzen: zwei
Temperatur am Zielort: +8 °C

Riga hat den Größten. Also den größten Turm: Der auf einer Insel inmitten des Flusses Düna errichtete Rigaer Fernsehturm ist das höchste Bauwerk der gesamten EU und ragt mit seinen 368,5 Metern weit über die Skyline der alten deutschen Hansestadt heraus. Uns grüßt der dreibeinige Turm, dessen Füße jeweils die Fläche eines Eishockeyfeldes besitzen, aus der Ferne beim morgendlichen Stadtbummel.

Dieser führt uns im Expresstempo aus der historischen Innenstadt, in der mit dem Rigaer Dom zudem die größte Backsteinkirche des Baltikums steht, die im Morgenlicht funkelnde Düna entlang und unter einer stählernen Eisenbahnbrücke hindurch zum Zentralmarkt. Hier gibt es in insgesamt fünf riesigen Markthallen jede Menge Feines aus Nah und Fern, sauber aufgeteilt in eine Fischhalle, eine Fleischhalle sowie je eine Halle für Gemüse, Milchprodukte und Gastronomie. Die fünf Hallen wurden in den 20er-Jahren aus den Elementen zweier Luftschiffhangars erbaut, die die Stadt Riga 1922 aus Kurland an die Düna transportieren ließ. Entsprechend beeindruckend ist die Atmosphäre in jeder einzelnen der Hallen. Leider können wir sie nicht wirklich lange genießen – denn für eine große Shoppingtour fehlt uns schlichtweg die Zeit.

Deshalb lassen wir gegen 10 Uhr auch die lettische Hauptstadt in unseren Rückspiegeln verschwinden und düsen durch das dünn besiedelte Hinterland des Baltenstaates Richtung Kaliningrad. Dazwischen passieren wir auf halbem Weg fast unbemerkt die Grenze nach Litauen und buchen auf diese Weise noch einen weiteren Länderpunkt auf unser Sammelkonto. Außer der Tatsache, dass mit Litauen auch die dritte Nation des Baltikums sehr viel weite, ebene Fläche zu bieten hat, sich zwischen unverkennbarer Armut auch immer wieder adrette Oasen des Wohlstands offenbaren und die Menschen, die wir bei unseren wenigen Stopps treffen, allesamt sehr freundlich wirken, bekommen wir von dem Land allerdings eher wenig mit. Schließlich sind wir nur auf der Durchreise – leider.


Leider hat auch das Wetter längst wieder ins Negative umgeschlagen. Waren die ersten Stunden unseres Tages in Riga noch von strahlendem Sonnenschein begleitet, haben nun wieder Sturm und Regen das Zepter übernommen. Das teilt uns auch der litauische Wetterdienst mit: Plötzlich vibrieren alle unsere Handys gleichzeitig – eine Kollektiv-SMS warnt uns vor starken Böen, die übers flache Land fegen. Allerdings auf Litauisch, weswegen es etwas dauert, bis wir den Inhalt der Nachricht mittels Google in eine uns geläufige Sprache transferiert bekommen. Aber das System beeindruckt uns trotzdem – in Deutschland hat jedenfalls noch keiner von uns eine Unwetterwarnung per SMS erhalten.
Die russische Exklave Kaliningrad kann man von Litauen aus auf zwei Wegen erreichen. Einmal über die Stadt Sovetsk und den dortigen Grenzübergang im Landesinneren, und einmal über die Kurische Nehrung, eine knapp 100 Kilometer lange und nur wenige 100 Meter breite Halbinsel vor der Festlandküste. Nicht schwer zu erraten, für welche Alternative wir uns entscheiden, oder?


Die Kurische Nehrung lockt uns mit spektakulären Sanddünen, Bannwäldern und Ostseeblick nach beiden Seiten. Zwar kommt man auf der litauischen Seite nur mit einer kleinen Fähre dort hin und muss zudem ein paar Euro Maut bezahlen, wenn man die enge, mit Pfützen übersäte Inselstraße befahren möchte, aber das ist es uns wert. Trotz des miesen Wetters.
Wir werden nicht enttäuscht: urige moosbedeckte Wälder, fast surreal und märchenhaft, säumen links und rechts die Straße – kilometerlang. Dann plötzlich öffnet sich der Wald – mal auf der einen, mal auf der anderen Seite – und gibt den Blick frei auf eine endlos scheinende Dünenlandschaft, während der Sturmwind von rechts wütend die Meereswogen an die Sandstrände klatschen lässt. Genau so haben wir es uns vorgestellt. Fehlen eigentlich nur noch die Elche, Trolle und Elfen, oder was sich sonst in einer solch unwirklichen Landschaft herumtreibt.


Als sich kurz vor der russischen Grenze durch den sich lichtenden Wald abermals ein Gebirge aus Sanddünen vor uns abzeichnet, können wir nicht widerstehen. Diese Gipfel müssen wir erobern – und zwar zu Fuß! Wir stellen unsere Volvos neben einem Forstweg auf den Waldboden und marschieren los in Richtung Meer. Der eifrig pustende Rückenwind lässt uns die steilen, weichen Dünen buchstäblich wie im Sturm erklimmen. Am höchsten Punkt angelangt, wandern wir einen schmalen Grat entlang – und müssen aufpassen, dass uns die Böen nicht hinterrücks vom Hügel pusten. Hier oben bläst es wirklich heftig. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Echtes Seebärenwetter! Neben uns zaubern die aufgepeitschten Sandkörner wirbelnde Muster in die Luft, während sich vor uns wie hinter uns mit einem Mal die Ostsee auftut. Glücksgefühle mischen sich mit Ehrfurcht vor der Kraft der Elemente, die uns die Natur hier auf beeindruckende Art um die Ohren haut. Ein Moment, der nachwirkt.


Die hereinbrechende Dunkelheit mahnt uns jedoch nach einer kleinen Ewigkeit zur Umkehr – nun stemmen wir uns mit aller Kraft gegen den Wind, schützen die Gesichter verzweifelt vor den geschossartig auf uns einprasselnden Sandkörnern und erreichen nach gut 15 Minuten wieder den schützenden Wald. Wenig später stehen wir an der Grenze, wo wir dieses Mal – ohne Schlagstock – reibungslos durchgereicht werden. Natürlich jedoch im typischen russischen Grenzposten-Schildkrötentempo und mit derselben bürokratischen Zettelwirtschaft, die wir auch schon bei der ersten Einreise nach Russland über uns ergehen lassen mussten.
Bis Kaliningrad, das bis 1946 Königsberg hieß und seit seiner Gründung im 13. Jahrhundert ununterbrochen zum Deutschen Reich gehörte, ist es von der Grenze etwa eine Stunde Fahrt´. Die nutzen wir, um uns über unsere Pläne fürs Abendessen auszutauschen. Die Erkenntnis ereilt uns schnell: Was liegt näher, als in Königsberg Königsberger Klopse zu essen?


Den Plan verinnerlicht, verschlägt es uns nach der Ankunft in der Stadt in ein Restaurant, das den etwas zweifelhaften Namen „Kaiser Wurst“ trägt. Deutsche Küche soll es hier geben – und die gibt es tatsächlich. Aber authentisch ist hier leider nichts. Weder die gekünstelt bayrische Hofbräuhaus-Atmosphäre noch die kitschigen Dirndl der (russischen) Bedienungen. Dass die letzten deutschen Kaiser Hohenzollern waren und keine Bayern, und „Kaiser Wurst“ in etwa so klingt, als hätte ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Gastwirt einfach bei Google nach den zwei häufigsten deutschen Wörtern gesucht und daraus einen Namen für sein Restaurant kreiert, lassen wir mal unter den Tisch fallen. Wir fühlen uns jedenfalls wie in Plastik-Deutschland. Nichts ist hier echt – bis auf die Freundlichkeit der durchaus ansehnlichen Servierdamen. Immerhin.
Müde von dieser etwas abgedrehten Erfahrung und zu faul zum Weiterfahren, beschließen wir, spontan drei Zimmer in dem Hotel zu buchen, das direkt gegenüber der Tiefgarage liegt, in der wir unsere Autos abgestellt haben. Von Kaliningrad werden wir leider nicht mehr viel mitbekommen – unser Kurs geht morgen auf direktem Weg gen Heimat. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir schon in 24 Stunden wieder deutschen Boden unter den Rädern haben.

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