ALLGÄU-ORIENT-RALLYE 2016

Unser alter Blog aus 2016 ist leider tot, aber die Texte sind zum Glück noch da!

Hier zum Nachlesen alle Einträge, vom ersten bis zum letzten Tag. Bilder dazu findet Ihr im Bildarchiv!


Text: Patrick Zwerger / Fotos: Rouven Sporer

Vorwort
Mit 20 Jahre alten Autos vom Allgäu nach Georgien und zurück in die Türkei. Ein Roadtrip auf die harte Tour, über Bergpässe, Prärie und Hinterland. Ohne Navi, ohne Autobahn, ohne Mautstraßen. Hauptpreis: ein Kamel, und der süße Duft der Freiheit. Mittendrin: wir, Team Nummer 34 „Schwabenstahl Volvo-Power“. Sechs Freunde, drei Volvos, ein Ziel: 20 Tage für die Ewigkeit.

Unsere Rallye
Aber was ist die Allgäu-Orient-Rallye eigentlich genau? Eine gute Frage!
Irgendwer hat die Veranstaltung mal als „Rallye Dakar für Arme“ betitelt. Sieht man sich die Sache näher an, trifft das des Pudels Kern ganz gut. Von Anfang an war es das Ziel der Veranstalter gewesen, einen Roadtrip zu kreieren, der auf den Spuren der legendären Wüstenrallye wandelt, allerdings auch für den „kleinen Mann“ finanziell zu stemmen ist. Das Ganze war eine riesige Erfolgsgeschichte: 2006 aus einer Bierlaune entstanden (die offiziellen Quellen sprechen von Fanta), hat sich die Allgäu-Orient-Rallye über die Jahre zur größten Veranstaltung ihrer Art entwickelt. 111 Teams gehen Jahr für Jahr an den Start. Nur 2016 waren es, bedingt durch Terrorangst und einen immer brüchigeren Frieden, ein paar weniger.

Statt Millionenbeträgen wie bei der Rallye Dakar ist für die Allgäu-Orient-Rallye ein vergleichsweise mickriges Preisgeld von 222,22 Euro pro Person zu berappen. Jedes Team besteht aus vier bis sechs Personen und zwei bis drei Autos. Alten Autos! Das ist eine der wenigen Regeln der Rallye. Die Fahrzeuge müssen mindestens 20 Jahre auf dem Buckel haben oder weniger als 1.111 Euro wert sein. Für die Beschaffung und die Vorbereitung ist jedes Team selbst verantwortlich. Genau wie für die Finanzierung, die zumindest teilweise über Sponsoren erfolgen kann. Denn die Rallye verfolgt karitative Ziele: Am Schluss werden alle Autos für einen wohltätigen Zweck gespendet. Zumindest theoretisch…

Tag 1, 30. April 2016

Start! Das Warten hat ein Ende

Der große Tag ist gekommen. Monatelang haben wir auf diesen Moment hingearbeitet, ganze Nächte in der Werkstatt verbracht, an unseren Autos geschraubt und sie für ihre letzte Reise flottgemacht. Jetzt geht es endlich los! Heute startet die Allgäu-Orient-Rallye zu ihrer elften Auflage. Und wir sind mittendrin, mitten in Oberstaufen, wo heute Vormittag der Startschuss fällt.

Der ganze Ort gleicht einem riesigen Fahrerlager. An jeder Ecke stehen die Rallye-Teams mit ihren bunten Boliden, durch die Straßen des verträumten Voralpendorfes hallen die kuriosesten Hup-Fanfaren. Die Sonne scheint. Strahlend blauer Himmel. Besser könnt‘ es nicht sein! Auf den Terrassen der Cafés treten sich die Menschen die Füße platt, um einen möglichst guten Blick auf das Spektakel zu erhaschen, das sich vor ihren Augen abspielt. Eine Kolonne bunt bemalten Altblechs rollt durch die Innenstadt, bahnt sich ihren Weg bis in das Festzelt. Dort, wo wir gestern noch den Rallyestart und uns selbst gefeiert haben, ist heute eine Startrampe aufgebaut. Jedes Team, jedes Auto muss da drüber, um in die Freiheit zu gelangen und Kurs Richtung Istanbul nehmen zu können. Die Atmosphäre ist grandios, die Euphorie ist greifbar. Ein geiles Gefühl, hier dabei sein zu dürfen.

Endlich sind auch wir an der Reihe. Unter dem Jubel der Spalier stehenden Zuschauer rollen wir mit unseren Volvos über die Rampe. Doch so ohne weiteres kommen wir nicht los! Ein TÜV-Prüfer gibt auf der Rampe jedes Auto samt Besatzung für den Start frei. Seinem geschulten Auge fällt auf, dass Marcel und Meier, Fahrer unseres dritten Autos „Lila“, noch reichlich zerknautscht dreinblicken. Waren da gestern ein, zwei Cuba Libre zu viel im Spiel? Die letzte Nacht scheint ihnen jedenfalls zugesetzt zu haben. Rein äußerlich zumindest… Denn der Schein trügt. Heldenhaft meistern die Beiden den Fahrtüchtigkeitstest des TÜV-Prüfers: 34 Liegestütze, analog zu unserer Startnummer, der 34. Ein Glück für uns alle, dass wir uns nicht als Team 111 angemeldet haben. Wer weiß, ob wir dann überhaupt aus Oberstaufen rausgedurft hätten…

 

Tag 1, 30. April2016

Aller Anfang ist schwer …

Oberstaufen → Irgendwo in West-Slowenien

Gefahrene Kilometer: hart an der Grenze
Fahrzeit: zu lange
Grenzübergänge: 3

Puh! Das war am Ende doch ziemlich zäh. Um 2.30 nachts haben wir Slowenien erreicht. Über das Allgäu, Österreich und Südtirol sind wir schließlich in dem Land angekommen, das wir für unseren ersten Nachtstopp auserkoren hatten. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass wir noch gute 200 Kilometer westlich unseres ursprünglich anvisiertes Ziel Krsko stecken. Daran ist einerseits das endlose Gegurke durch die Dolomiten und die Po-Ebene schuld. Die chaotische Willkür-Beschilderung auf Italiens Straßen und die Orientierung bei Nacht waren ebenfalls nicht wirklich hilfreich. Ein, zwei vermeintliche „Abkürzungen“ über Wanderwege und hügelige Schotterpisten erwiesen sich außerdem als autofeindliche Sackgassen. Dazu kommt der Umstand, dass wir gut vier Stunden später als geplant von Oberstaufen losgekommen sind. Erstens, weil wir erst um die Mittagszeit gestartet sind, zweitens, weil wir auf dem „Hündle“ erst mal unser Roadbook zurückerobern mussten. Das war nämlich von einer Horde garstiger Wolpertinger gestohlen und versteckt worden. Als Lösegeld mussten wir deshalb oben auf dem Hündle ein Lied zum Besten geben.

Wir wissen noch immer nicht, ob wir die dreisten Diebe mit unserer Interpretation der „Fischerin vom Bodensee“ tatsächlich überzeugen konnten, oder ob sie uns unser Roadbook aus Verzweiflung zurückgegeben haben, wenn wir nur endlich aufhören zu singen. Den Refrain durften wir zumindest nicht mehr vollenden. Aber wie dem auch sei, jedenfalls sind wir jetzt im Besitz unserer eigenen hochheiligen „Rallye-Bibel“. Sie wird in den nächsten drei Wochen die Hauptrolle in unserem Leben spielen. Dort sind alle Aufgaben für die Rallye vermerkt, die wir auch fleißig erledigen wollen. Wir wollen ja das Kamel haben! Außerdem haben wir am Hündle unsere ersten Rosenstöcke abgelegt, für den Friedensgarten, von denen es noch zwei Pendants in Istanbul und Tiflis geben soll.

Ein paar Kilometer weiter haben wir auf der Käsealm bei Immenstadt ein kleines Fresspaket und unser Tausch-Musikinstrument bekommen. Jedes Team hatte ja ein Instrument besorgen müssen, das dann mit dem eines anderen Teams getauscht wurde. Wir haben … eine Trompete ergattert! Das hätten wir schlimmer treffen können. Mit dem nostalgischen Klangblech muss einer von uns in den nächsten Tagen lernen, „Highway to hell“ von ACDC zu spielen. Nicht ganz ohne, aber der Mensch wächst mit der Herausforderung. Und es sollen Gerüchten zufolge ja bereits musikalische Grundkenntnisse bei einzelnen Teammitgliedern vorhanden sein.

Beim anschließenden Schubkarren-Hindernisparcours haben wir unseren besten Mann vom Dorf ins Rennen geschickt. Mit Erfolg: Lars hat eine super Zeit hingelegt und der Wassereimer, den er dabei transportieren musste, fasst noch grandiose vier Liter. Der Trick? „Einfach denken, in dem Eimer sei Bier.“ Hat funktioniert – die Extrapunkte gehören uns!

Gegen die Zeit

Natürlich war uns klar, dass alle die geschilderten Faktoren unseren Zeitplan hoffnungslos gesprengt hatten. Zu allem Überfluss war auch noch der Hahntennjoch-Pass, über den wir drüber wollten, gesperrt und wir mussten einen Umweg nehmen. In den Serpentinen Tirols wollten wir deshalb ein bisschen Zeit gutmachen und haben unsere Volvos etwas rasanter durch die Prärie bugsiert, als die Polizei erlaubt. Konsequenz: ein Strafzettel, ein Polizei-Kugelschreiber für 50 Euro und ein Erinnerungsfoto fürs Team-Album. Lustigerweise hat der nette Herr in Blau nur eins unserer drei Autos mit der Laserpistole abgeschossen – getreu dem Motto: Wenn Du etwas dreimal vor Dir siehst, entscheide Dich für die Mitte…

In Bruneck, Südtirol, haben wir uns für einen einstündigen Pizza-Stopp entschieden. Der Zeitplan war ja eh schon zerhagelt, die Stadt sympathisch und die Pizza mega lecker. Rienz-Bräu Bruneck – sehr zu empfehlen! Der Rest der Fahrt fand dann schon im Dunkeln statt. Nach schier endloser Kurverei durch italienische Käffer, bei der sich die Kilometer gezogen haben wie Kaugummi, sind wir schließlich bei Nova Gorica über die slowenische Grenze gehuscht. Die Entscheidung, wie weit wir noch in Richtung Tagesziel gen Osten fahren, war wenig später schnell getroffen: Feierabend für heute! Statt Campingplatz eben noch mal am Straßenrand pennen. Wer braucht schon die Zivilisation? Duschen wird sowieso überbewertet.

Jetzt liegen wir irgendwo unweit von Podnanos in den Kojen unserer Schwedenstahl-Panzer und lauschen den Sturmböen, die über uns hinwegfegen. Morgen Früh ziehen wir weiter und versuchen, ein paar Meter gut zu machen – wenn wir heute Nacht nicht aus Versehen fortgeweht werden…

 

Tag 2, 1. Mai 2016

Regen, Regen, Regen

Podnanos (West-Slowenien) → Sarajevo
Gefahrene Kilometer: weniger als vorgesehen
Fahrzeit: bis in die Nacht
Grenzübergänge: 2

Weggeblasen hat es uns nicht, dafür hat uns der Wind eine deftige Portion Regen angeliefert. Der Blick aus dem Fenster in die graue Suppe macht das Aufstehen nicht gerade einfacher. Aber es führt kein Weg dran vorbei, wir müssen weiter und vier Stunden Schlaf müssen dafür reichen.

Natürlich gibt es schönere Dinge, als sich im strömenden Regen unter freiem Himmel die Zähne zu putzen und die Unterhose zu wechseln. Frühstück zum Beispiel. Das gönnen wir uns direkt an der nächsten Tanke – unsere Volvos haben nämlich auch Durst.

Was beim Autofahren in Slowenien auffällt: Die Beschilderung ist um Welten besser als in Italien. Da dürften sich die Italiener ne dicke Scheibe abschneiden davon. Optisch erinnert uns Slowenien mit seinen dichten Mischwäldern und der hügeligen Topographie ein bisschen an den Schwarzwald. Ganz schön – bei Sonne aber sicher noch viel toller. Leider ist von der den ganzen Tag über keine Spur zu sehen. Stattdessen prasseln unentwegt die Regentropfen auf uns nieder. Meine Nase hat sich den Gegebenheiten angepasst und tropft mit dem Regen um die Wette. Die Stimmung ist trotzdem gut.

An der kroatischen Grenze bei Brod na Kupi werden wir von einer leicht mürrischen Zöllnerin willkommen geheißen. Aufs Filzen unserer Autos verzichtet sie allerdings dann doch, nachdem sie eine kräftige Prise unseres Innenraumklimas eingeatmet hat. Scheint wohl eher abschreckend zu wirken…

Von Kroatien bekommen wir leider nicht allzu viel zu sehen, weil das Land es offensichtlich vorzieht, sich heute in dichte Nebelschwaden zu hüllen und sich auf diese Weise unserem Anblick zu entziehen. Aussichtslos auch der Versuch, die heutige Roadbook-Sonderprüfung zu erfüllen – Brotzeit auf der Motorhaube mit einem Fremden. Bei dem Piss trauen sich ja nicht mal Hunde vor die Tür.

Am Nachmittag betreten wir bei Bihać bosnischen Boden und bekommen unseren ersten Stempel in den Reisepass. Juhu! Schilder in lateinischer und kyrillischer Sprache heißen uns willkommen und zeugen von der multiethnischen Prägung des Landes. Der starke muslimische Einfluss zeigt sich sofort im Straßenbild. Statt der altehrwürdigen Kirchen Kroatiens und Sloweniens bestimmen nun Moscheen das Bild. Ihre Minarette ragen wie Lanzen in den Himmel. Immer wieder wird die Phalanx der muslimischen Gotteshäuser durch orthodoxe Kirchen durchbrochen. In diesen Gebieten stellen christliche Serben die Bevölkerungsmehrheit. Mit diesem Faktum halten die Serben nicht hinterm Berg: „Welcome to Republika Srpska!“ steht auf den rot-blau-weiß bemalten Schildern am Straßenrand.

Ruinen und Ćevapčići

Von der ersten Minute an sind wir von Bosnien fasziniert. Ein starker Kontrast zwischen Verfall und Moderne, zwischen Erstarren und Aufbruch kennzeichnet die ersten Dörfer, die wir durchfahren. Neu errichtete Gebäude und Ruinen stehen direkt nebeneinander. Die ländlichen Gegenden sind auffallend dünn besiedelt. An den Hügeln links und rechts der Straße stehen nur vereinzelt Häuser. Viele ähneln eher Trümmerhaufen und scheinen dem Verfall preisgegeben, andere sind wohl erst vor Kurzem gebaut oder auf alten Grundmauern neu errichtet worden. Zeugen des Krieges, der hier noch vor 20 Jahren tobte? Wahrscheinlich. Der Nordwesten Bosnien-Herzegowinas war bis 1995 stark umkämpft. Davon zeugen auch die ominösen Krater, die sich links und rechts unseres Weges wie alte Narben über die Wiesen und Hügel erstrecken. Artillerieeinschläge, mutmaßen wir. Zwar ist im wahrsten Sinne Gras über die Sache gewachsen, trotzdem erinnern diese Narben schmerzlich daran, dass es noch vor ein paar Jahren unmöglich war, hier durchzufahren. Bihać, Tuzla, Sarajevo – auf der Karte stechen Orte ins Auge, deren Namen wir nur aus den Nachrichten kennen.

Das wollen wir ändern: Wir nehmen Kurs auf Sarajevo, wo wir unseren Nachtstopp einlegen wollen. Da das Straßennetz gut ausgebaut ist, kommen wir schnell voran. So schnell, dass wir ein offizielles Beweisfoto davon machen lassen. Womit dokumentiert wäre: Die Blitzer in den Ortschaften sind keine Attrappen…

In Jablanica, 90 Kilometer vor Sarajevo, kehren wir zum Abendessen ein. Eigentlich hätten wir hinter der tristen Fassade niemals ein Restaurant vermutet. Deshalb wollten wir ursprünglich auch nur vor dem Gebäude parken und zu Fuß nach einem Lokal suchen. Aber der lustige Typ, der uns auf dem engen Parkplatz spontan beim Rangieren hilft, entpuppt sich als Wirt und spricht sogar ein paar Brocken Deutsch. Wer könnte da zu einem bosnischen Bier und einem Teller Ćevapčići im Fladenbrot schon Nein sagen?

Neues Ziel Sarajevo

Beim Essen diskutieren wir mit dem Wirt und der Stammkundschaft unsere weitere Routenplanung in Richtung Kosovo. Mit Händen und Füßen und viel Lachen erklären wir ihnen, was wir so vorhaben. So recht begeistert sind sie nicht von der Idee, uns in den Kosovo zu schicken. Mehrmals fragen sie, ob wir da wirklich hinwollen. Ja, wollen wir, ist stets die Antwort. Natürlich halten sie uns und unsere ganze Reise für vollkommen verrückt. Aber irgendwie scheint es ihnen trotzdem zu gefallen, uns Reisetipps zu geben. Über mangelnde Sympathie können wir uns zumindest nicht beklagen. Und als wir den Herren zum Abschied noch zwei Flaschen Meckatzer Weiss-Gold als Gastgeschenk dalassen, fangen die Augen an zu leuchten. Spätestens jetzt haben wir Freunde in Jablanica. Deutsches Bier ist international eben eine sehr stabile Währung…

In stockfinstrer Nacht arbeiten wir uns schließlich über die letzten Bergstraßen nach Sarajevo. Seit der nachmittäglichen Blitzerbegegnung halten wir uns an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Von den Bosniern selbst werden Begrenzungen dagegen eher als Empfehlung angesehen. Selbst von zwei Omnibussen werden wir auf einem Bergabstück überholt. Die scheinen sich ein Rennen zu liefern, so wie die beide ins Tal hinunterstechen. Respekt! Natürlich zuckt es bei diesem Anblick merklich im Gasfuß. Aber wir sind hier ja nur Gäste. Contenance bewahren!

In Sarajevo steigen wir in einem Hotel am Flughafen ab. Das kostet zwar ein bisschen mehr als die anvisierten 11,11 Euro, aber es ist sauber, die Belegschaft ist freundlich und wir dürfen sogar in der hoteleigenen Garage parken. Außerdem ist das Frühstück im Preis inbegriffen, es gibt freies W-Lan und wir haben die letzte Nacht ja gratis übernachtet. Am meisten freuen wir uns aber über die wohltuende Dusche – genau das Richtige nach einem anstrengenden Reisetag.

Ein letztes bosnisches Feierabendbier und dann heißt es Licht aus und schlafen. Morgen wollen wir spätestens um 8 Uhr weiter über Montenegro und den Kosovo bis mindestens nach Mazedonien.

 

Tag 3, 2. Mai 2016

Ein Ritt ins Nirvana

Sarajevo → Gacko → Zabljak → Pristina
Gefahrene Kilometer: viel mehr als geplant
Fahrzeit: viel länger als vorgesehen
Grenzübergänge: 2

Ups! Das passiert, wenn man beim Navigieren mal einen Moment nicht aufpasst. Auf dem Weg raus aus Bosnien zur montenegrinischen Grenze biegen wir bei Foca eine Straße zu früh nach rechts ab. Leider bemerken wir diesen Umstand erst viel später, nachdem wir uns bereits über 40 Kilometer durch die schroffen Gebirgsschluchten der Grenzregion gekämpft haben. Die steilen Felsen sind wirklich beeindruckend, allerdings liegt unser Fokus gerade eher auf den Reservelämpchen unserer Spritanzeigen, die seit Minuten bedrohlich leuchten. Beim Start in Sarajevo hatten wir uns nämlich entschieden, erst in Montenegro zu tanken, weil dort der Euro offizielles Zahlungsmittel ist. Ein verhängnisvoller Fauxpas, der sich nun rächt: Als wir unseren – eigentlich behebbaren – Navigationsfehler bemerken, sind wir bereits so weit von Foca entfernt, dass wir es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr mit dem verbliebenen Restsprit zurückschaffen. Anders als im Rest von Bosnien, wo an jeder Ecke mindestens eine Tankstelle steht, suchen wir im felsigen Niemandsland, in dem wir uns jetzt befinden, vergebens nach der rettenden Benzinoase. Deshalb bleibt nur eine Möglichkeit: Wir bleiben auf unserem Weg, steuern den nächstgrößeren Ort Gacko an und versuchen dort etwas weiter südlich über einen kleinen Grenzübergang zu gelangen, der in unserer Karte verzeichnet ist. Am Ende wird uns diese Entscheidung einen Dreivierteltag gekostet und uns ins abenteuerlichste Hinterland von Montenegro geführt haben. Aber das erfahren wir erst später. Dass unser Zeitplan mal wieder im Eimer ist, dämmert uns allerdings jetzt schon.

Das Kreuz mit der Grenze

In Gacko gibt es tatsächlich eine Tankstelle – sogar deren zwei – und wir füllen unsere Tanks mit feinstem Superbenzin. Hinter der Tanke vergnüge ich mich mit den dort grasenden Kühen, während Lars und Marcel an der Zapfsäule mit einem einheimischen Mountainbiker ins Gespräch kommen. Er heißt Matisek, wohnt in Gacko und ist mindestens genauso (positiv) verrückt wie wir. Immerhin ist er mit seinem Kumpels schon im Trabi ans Nordkap gefahren… Als wir ihm von unserem Trip erzählen, ist er Feuer und Flamme – und uns ist klar: Das ist unser Mann für die Roadbook-Tagesaufgabe von gestern: Brotzeit mit einem Einheimischen auf der Motorhaube eines unserer Autos. Obwohl er längst auf dem Sprung ins Gebirge ist, wo er mit ein paar Gleichgesinnten auf Tour geht, nimmt sich Matisek gerne die Zeit und posiert mit uns fürs Gruppenfoto. Das wäre also abgehakt. Ob er einen schnellen Weg von Gacko über die Grenze nach Montenegro kenne, wollen wir abschließend von ihm wissen. „Klar“, lacht der Biker, tritt in die Pedale, und ruft im Davonfahren: „Über die Berge – mit dem Fahrrad!“ Scherzkeks, denken wir. Aber über die Berge wollen wir es trotzdem mal versuchen.

Bei Donji Carade ist in der Karte ein Grenzübergang eingezeichnet. Dort setzen wir zum ersten Versuch an. Doch der schlägt fehl: Der einsame Grenzübergang erweist sich als geschlossen, die Schlagbäume verharren in der Waagerechte. Der einzige dort Dienst schiebende Zöllner (strafversetzt?) erklärt uns höflich aber bestimmt, dass es für uns hier nicht weitergeht. Stattdessen empfiehlt er uns, bis runter nach Bileca zu fahren und es dort zu probieren. Sein „Good luck!“ zum Abschied klingt irgendwie nicht so vertrauenerweckend. Außerdem meißeln wir mit dieser Alternative eine weitere Beule in unseren Kurs. Aber wir haben ohnehin längst alle ursprünglichen Pläne über Bord geworfen. Den in Pristina geplanten Stopp beim SOS Kinderdorf haben wir auf morgen verlegt, und unsere Ankunft in Istanbul wird sich dann eben auch etwas verzögern. Was soll’s, wir sind ja nicht auf der Flucht …

Wilder Ritt um den Schwarzen Berg

Bei Bileca klappt der Grenzübertritt tatsächlich – wenn auch mit Hindernissen. Für „Lila“ fehlt plötzlich die grüne Versicherungskarte. Ohne lassen uns die Zöllner aber dummerweise nicht ins Land. Deshalb müssen wir gute 20 Minuten warten, bis irgend ein montenegrinischer Versicherungsheini sich der Sache annimmt und uns für „Lila“ für 20 Euro eine neue Versicherung verkauft.
Endlich im Land, genießen wir die grandiose Aussicht, die sich von unseren hochgelegenen Wegen hinab ins Tal bietet und arbeiten uns währenddessen wieder nach Nordosten hoch. Wir entscheiden uns, dabei von Pluzine über Zabljak zu fahren, weil wir diese Alternative für reizvoller halten – schließlich führt sie mitten durch den Durmitor-Nationalpark, eine eindrucksvolle Gebirgskette im Herzen des Landes: 48 Gipfel mit mehr als 2.000 Metern Höhe. Darunter auch jener, dem das Land Montenegro, was übersetzt so viel wie „Schwarzer Berg“ bedeutet, seinen Namen verdankt.

Durch urige, grobschlächtig in den Fels gehauene Tunnel geht es steil nach oben, bis wir bei Trsa ein Höhenplateau erreichen. Dort erwartet uns die nächste Hürde. In dem verschlafenen Bergdorf springen plötzlich zwei Einheimische auf die Straße uns wild mit den Armen rudernd davon abraten, den Pass zu nutzen: „Da liegt Schnee, da kommt Ihr nicht durch!“ Stattdessen zeigt er uns auf unserer Karte eine Alternativroute nördlich am Pass vorbei, durch einen Canyon. Und jetzt wird es richtig abenteuerlich. Die besagte Route ist in der Karte nämlich als bindfadendünne, zackige schwarze Linie eingezeichnet. Nie im Leben wären wir drauf gekommen, dort mit dem Auto lang zu fahren. Wir hätten das schwarze Gekritzel noch nicht einmal als Weg wahrgenommen. Aber die Jungs werden schon wissen, was Sache ist. Außerdem bleibt uns ja nicht viel anderes übrig, als den Anweisungen Folge zu leisten.

Eine wilde Kurbelei über Berg und Tal, durch zugewucherte Felspisten, Haarnadeln und Schikanen nimmt ihren Lauf. Stellenweise kratzen wir an der Schneefallgrenze, nur um Minuten später in den angesprochenen Canyon hinabzupreschen, der uns zwar dichten Nebel und miese Sicht, dafür aber stabil über dem Gefrierpunkt angesiedelte Temperaturen beschert. Kurve um Kurve eiern wir so durchs montenegrinische Hochland. Über eine Stunde brauchen wir für die 35 Kilometer von Trsa nach Zabljak. Aber diese Stunde hat es wahrlich in sich!

Im Blindflug Richtung Pristina

Zurück in der Zivilisation, bahnen wir uns den Weg durch die wuchtigen Felsschluchten entlang des Flusses Tara und erreichen schließlich um kurz vor halb 9 abends den Kosovo. Da wir nicht über Serbien einreisen wollen, weil wir nicht zweimal für die fehlende Versicherungskarte blechen möchten, entscheiden wir uns abermals für die abenteuerliche Einreisevariante – über Maria Jablanica nach Peje. Wieder ein Berg, diesmal im Dunkeln, bei fiesem Nebel, heftigem Platzregen und keinen 30 Metern Sicht. Überall auf dem Weg lauern garstige Steinbrocken, die sich erst im letzten Moment zu erkennen geben. Da ist Konzentration gefragt!
Auf halber Strecke treffen wir an der Grenze auf gut gelaunte kosovarische Grenzposten: „Ganz schön nass heute, was?“ Ja, in der Tat. Ganz schön nass. Die Grenzer sind zwar wirklich freundlich, erledigen ihren Job aber höchst korrekt – leider müssen wir für den Kosovo eine weitere Zusatzversicherung für die Autos abschließen, diesmal für alle drei. Die kostet uns aber nur 15 Euro und ist in wenigen Minuten ausgestellt. Damit dürfen wir dann anstandslos passieren – Grenzposten-Streicheleinheiten für unsere Kamel-Kühlerfiguren inklusive. Die erste Überraschung: Eigentlich hatten wir vor allem im Kosovo mit miesepetrigen, strengen Grenzposten gerechnet. Das Gegenteil ist der Fall. Wir werden fast euphorisch und in astreinem Englisch willkommen geheißen.

Die nächste Überraschung folgt direkt hinterher: Von Peje nach Pristina fahren wir auf einer nagelneuen, teils vierspurig ausgebauten Straße. Auf die Art schaffen wir die 100 Kilometer in etwas mehr als einer Stunde. Rekordverdächtig! Man sieht schon sehr deutlich, dass der Kosovo massiv aus dem Ausland subventioniert wird.
In Pristina parken wir unsere Autos für fünf Euro auf einem bewachten Parkplatz und steigen im zentral gelegenen Han Hostel ab – für zwölf Euro die Nacht. Duschen geht leider erst mal nicht, weil das Hostel im vierten Stock liegt und nachts die Pumpen, die das Wasser von unten dort hin befördern, nicht angeschaltet sind. Das holen wir eben morgen Früh nach. Genau wie unseren Besuch im SOS Kinderdorf. Für den Moment geben wir uns mit Bier und Bett zufrieden.

 

Tag 4, 3. Mai 2016

Tetori 1 vs. 1 Tetori

Pristina → Fanari Beach
Gefahrene Strecke: 610 km
Fahrzeit: 16 Stunden (inklusive Pausen)
Grenzübergänge: 2

Über Pristina hat es sich eingeregnet. Als wir am Morgen gegen halb 9 das Han Hostel verlassen, hängen die Wolken noch genauso tief und nass über der Stadt wie in der Nacht zuvor. Trotzdem sind wir guter Dinge, denn wir haben ein Date: Heute besuchen wir das SOS Kinderdorf in Pristina, um unsere Sachspenden abzugeben, die wir seit Tagen in und auf den Volvos Spazieren fahren. Wir sind früh dran und scheinbar nur wenige Autominuten von unserem Ziel entfernt. Sollte also nichts schiefgehen. Doch als wir die anvisierte Adresse erreichen, fehlt vom Kinderdorf jede Spur. Von den Passanten, die wir fragen, scheint keiner wirklich was mit uns anfangen zu können. Auch ein Anruf bei der Direktorin bringt uns nicht weiter. So stehen wir etwas bedröppelt auf dem Parkplatz einer Raiffeisenbank-Filiale und wissen nicht so recht, wo wir nun hin sollen. Zum Glück erwischen wir jedoch wenig später einen Bankangestellten, der uns aufklären kann. Um es kurz zu machen: Wir sind falsch. Mal wieder. Aber wer sollte auch wissen, dass die Adressen „1 Tetori“ und „Tetori 1“ in Pristina zwei komplett unterschiedliche Standorte sind? Da der Bankmann sowieso gerade Pause hat, bietet er uns an, mit uns direkt zum Kinderdorf zu fahren. Diese Hilfe nehmen wir gerne an – in den Rallyeregeln steht nichts davon, dass menschliche Navis nicht zugelassen sind. Wenige Minuten später stehen wir tatsächlich auf dem Gelände des SOS-Kinderdorfes und werden dort von Direktorin Ora, ihrer Belegschaft und den Kindern herzlich in Empfang genommen.
Ora erzählt uns von ihrer täglichen Arbeit, von der schwierigen Situation im Kosovo, von der Mission, der kosovarischen Jugend eine Perspektive zu geben, und von ihrem Kampf um staatliche Zuschüsse für das Kinderdorf, die es bis heute nicht gibt. „Deswegen freuen wir uns sehr, dass ihr uns besuchen kommt!“ Auch wir sind froh, mit dem Besuch im SOS-Kinderdorf Pristina die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die Verantwortlichen hier können jede Hilfe gebrauchen, und das lassen sie uns auch sehr herzlich wissen. Besondere Freude bei Ora weckt jedoch die hausgemachte schwäbische Marmelade, die wir der Hausherrin als privates Gastgeschenk überreichen. Nach einem ausführlichen Rundgang durchs Dorf und die einzelnen Bereiche laden wir unsere mitgebrachten Sachspenden ab, machen ein Erinnerungsfoto und verabschieden uns mit dem entschlossenen Gefühl, dass uns Pristina nicht zum letzten Mal gesehen hat. Das Leben im Kosovo ist schwer, keine Frage. Das merken wir an jeder Ecke, in jedem Gespräch, in jedem Blick, den die Menschen uns zuwerfen. Doch der jüngste Staat Europas hat uns positiv überrascht. Das Land lohnt einen zweiten Besuch…

Eine zwielichtige Begegnung

Überrascht sind wir auch von Mazedonien. Allerdings negativ. So viel Armut und Verfall hätten wir hier nicht erwartet. Bettelnde Roma-Kinder penetrieren uns in vielen der größeren Orte, die wir durchqueren. Sie stehen an jeder Kreuzung – schaltet die Ampel auf Rot, schlägt ihre Stunde. Und das mit dem Schlagen nehmen sie ziemlich wörtlich: Unsere Ignoranz macht die jungen Wegelagerer scheinbar so aggressiv, dass sie wütend gegen unsere Autos trommeln. Schleimiger Speichel rinnt von „Lilas“ Seitenscheibe. Unsympathisch. Dazu gleicht Mazedonien in weiten Teilen einer riesigen Müllkippe. Lichtblicke sind selten, obwohl die Landschaft, vor allem Richtung Küste, einiges an Potenzial verspricht. Immerhin, eine schöne Nationalflagge haben sie… Trotzdem: Für ein Land, das sich dem Erbe Alexanders des Großen, des wohl berühmtesten Makedoniers aller Zeiten verpflichtet fühlt, ist das keine berauschende Bilanz. Zumindest auf den ersten Blick. Wer weiß, was Mazedonien noch alles zu bieten hätte, wenn man ein wenig mehr Zeit im Land verbrächte. Doch diese Zeit haben wir heute nicht. Um kurz nach 18 Uhr deutscher Zeit passieren wir die Grenze nach Griechenland.

Vegetarisches Hähnchen und griechischer Wein

In Griechenland wollen wir über Serres und Kavala und dann an der Mittelmeerküste entlang fahren. Leider erklären uns nach einer Stunde Fahrt große Schilder mit durchgestrichenen griechischen Buchstaben, dass die Fernstraße nach Serres gesperrt ist. Alternativ könnten wir die Autobahn nehmen, aber die ist ja bekanntlich feindliches Terrain. Also bleibt uns nichts übrig, als uns über Land- und Dorfstraßen vorzuarbeiten. Das kostet Zeit, gewährt uns aber auch tolle Eindrücke von der griechischen Provinz – Regionen, in die normalerweise kein Tourist seinen Fuß setzt.
Dieser Umstand hat einen Nachteil: Das wirtschaftliche Chaos in Grichenland hat vor allem auf den Dörfern gravierende Spuren hinterlassen. Viele Orte gleichen Geisterdörfern – leerstehende Häuser mit verschlossenen Jalousien geben ein niederschmetterndes Zeugnis davon ab, dass die noch immer grassierende Landflucht breite Schneisen in die Strukturen der Dörfer geschlagen hat. Restaurants sind auf unserer Route entsprechend spärlich gesät. Eines zu finden das auch noch offen hat, gleicht einem Lottogewinn. Dabei knurrt uns schon seit dem Nachmittag mächtig der Magen und wir hatten uns so sehr auf griechischen Wein und ein deftiges hellenisches Abendmahl gefreut.
Als wir – es ist bereits kurz vor 23 Uhr – die Hoffnung auf Essen fast schon begraben haben, ziehen wir in einem kleinen Kaff namens Podochori das große Los: Im örtlichen Restaurant brennt noch Licht, die Wirtsfamilie – Mutter, Vater, Sohn – sitzt an einem Tisch beisammen und gönnt sich ein paar Happen Hähnchen zur Nacht. Außer den Wirtsleuten ist niemand mehr im Raum, die Küche ist längst kalt, die Stühle stehen auf den Tischen. Trotzdem bieten uns Mutter und Sohn sofort an, uns spontan etwas zu Essen zu zaubern. Und wir bekommen tatsächlich den heiß ersehnten griechischen Wein kredenzt, den wir im Auto den halben Tag lang besungen haben. Glück muss der Mensch haben!

Es folgt eine Darbietung griechischer Gastfreundschaft, die sich gewaschen hat: Während Mama wie ein Wirbelwind in der Küche zu Werke geht, unterhalten wir uns mit dem Sohn über unsere Reise. Er findet es verrückt, freut sich aber wie Bolle, dass wir auf diese Weise durch sein kleines Dorf gefahren sind: „Ihr seid jetzt die Hauptattraktion – hier kommen nur ganz selten Ausländer vorbei.“ Als Minuten später das Essen aufgetischt wird, sind wir alle im siebten Himmel. Griechische Hausmannskost vom Feinsten, extra für uns zubereitet. Was will man mehr? Das Öl, die Oliven, der Käse, das Fleisch – alles perfekt. Kochen können sie, die Griechen. Und wie!
Allerdings scheinen sie eine etwas andere Vorstellung davon zu haben, was ein Vegetarier so istt – und was nicht. Da Tanja, seit Jahr und Tag strikte Fleischverächterin, bei der Essensbestellung höflich aber bestimmt auf eben diesen Umstand hingewiesen hat, bekommt sie nun ein Extra-Sondermenü serviert. Mit schwungvoller Geste und leuchtenden Augen reicht der griechische Nachwuchs-Gastronom ihr kurz darauf einen separaten Teller: „Especially for you, our vegetarian guest: the chicken!“ Tanja stockt der Atem: Hat der gerade tatsächlich „chicken“ gesagt?
Es stimmt: Auf Tanjas Teller tummelt sich eine Handvoll köstlicher Grillspieße – vollgepackt mit Hähnchenfleisch. Ohje. Was nun? Etwas verzweifelt blickt Tanja in die Runde. Wir wollen die Gastfreundschaft unserer neuen Freunde schließlich nicht beschämen. Sie haben es ja nur gut gemeint … Zum Glück sind zwischen den Hähnchenstücken auch ein paar Scheiben Paprika versteckt. Den Rest der Spieße verteilen wir einfach unauffällig weiter. Wir anderen tragen die Bürde dieser zusätzlichen Mahlzeit wie Männer – und bestellen noch Dessert hinterher.
Die Begegnung endet mit einem Erinnerungsfoto, ein Paar Flaschen schwäbischem Bier als Dankesgeschenk und einem herzlichen Abschied, verbunden mit der Mahnung, gut auf uns aufzupassen. Eine tolle Begegnung. Manchmal treibt der Zufall doch richtig schöne Blüten.

Endlich am Meer!

Vorbei am nächtlichen Kavala, einer wunderschönen alten Küstenstadt mit antikem Flair, erreichen wir gute zwei Stunden später unser Nachtziel Fanari Beach. Endlich campieren wir mal direkt am Mittelmeer! Ein grandioser Sternenhimmel heißt uns willkommen und lädt uns zum Genießen ein, bevor wir um kurz vor Vier in unsere Volvo-Hotels kriechen. Wir müssen uns sputen: Schon in vier Stunden brechen wir nach Istanbul auf.

 

Tag 5 – Fanari Beach → Istanbul

Istanbul: Check!

Gefahrene Kilometer: 450
Fahrzeit: knappe 10 Stunden (inklusive Pausen)
Grenzübergänge: 1

Das erste Teilziel ist geschafft: Um Punkt 18 Uhr haben wir tatsächlich Istanbul erreicht und im zentral gelegenen Fahrerlager unsere Zelte aufgeschlagen. Hinter uns liegt ein anstrengender Ritt, der uns direkten Weges in die Bosporus-Metropole gebracht hat. Morgens um 8, nach nicht einmal vier Stunden Schlaf, sind wir von Fanari Beach in die Türkei aufgebrochen. Das fiel uns etwas schwer, denn bei herrlichem Sonnenschein und angenehmer Wärme wären wir gerne noch ein bisschen länger am Strand rumgehangen. Meer, Sand, Sonne – astreines Urlaubsfeeling! Doch alles Lamentieren hat nichts genützt, wir mussten ja weiter.

Über abenteuerliche Schlagloch-Serpentinen haben wir uns ins griechische Hinterland Richtung Grenze verdrückt. Jede Kurve, jede Steigung hatte ihre eigene Art, uns mit Unvorhergesehenem zu überraschen. Teilweise fehlten unterwegs ganze Straßenstücke! Die waren offensichtlich vor einiger Zeit ins Tal weggebrochen. Nun klaffen dort Löcher, groß genug, um einen Pkw in Volvo-Größe in Windeseile unsanft Richtung Tal zu bugsieren. Sicherung? Fehlanzeige. Ein paar rote Hütchen müssen reichen. Schnell reagieren heißt hier die Lebensversicherung. Und auf alles gefasst sein. Immer! Seien es Felsbrocken, die von den Hängen links der Straße kullern, oder gemächlich über die Straße trottende Kühe, die plötzlich hinter irgendwelchen Kurven auftauchten. Langweilig wird es hier nicht. Aber das hat uns natürlich nichts ausgemacht. Im Gegenteil! Das fette Grinsen aller Teammitglieder transportierte eine untrügliche Botschaft: Griechenland rockt!

Keine Versicherung? Kein Problem!

20 Kilometer vor der Grenze ein letzter Tankstopp – man lernt ja aus seinen Fehlern… Der Tankwart sprach passables Deutsch und erzählte uns mit trauriger Stimme, dass die umliegenden Dörfer allesamt zu 70 Prozent leer stünden. Und schon hatte die bittere Realität uns wieder eingeholt: „Die Leute aus den Dörfern sind alle in Deutschland, Holland oder in Athen. Hier auf dem Land gibt es nichts, womit man Geld zum Leben verdienen könnte. Es ist wirklich schlimm geworden die nächsten Jahre.“
Bei der Ausreise aus Griechenland warnte uns der griechische Grenzposten vor, dass wir mit „Saschas“ grüner Versicherungskarte Probleme bekommen könnten. Da war die Türkei nämlich durchgestrichen. Das wussten wir, allerdings hatte man uns in Deutschland erklärt, dass wir problemlos in der Türkei eine extra Versicherung würden abschließen können. Den Betrag dafür würde uns der deutsche Versicherer dann erstatten, wenn wir wieder zu Hause wären. Soweit die Theorie. Aber die hält ja bekanntlich der Wirklichkeit selten stand. Die Frage nach der Möglichkeit einer zusätzlichen Grenzversicherung war nämlich schnell beantwortet: „Es gibt an diesem Grenzübergang kein Büro…“ Na toll! Wir entschieden uns trotzdem, es erst mal zu versuchen. Die lange Schlange vor uns bot genug Gelegenheit, sich einen Plan zurechtzuschmieden.
Unterdessen konnten wir erste Blicke auf das Land erhaschen, das uns in den kommenden Tagen als Spielwiese dienen sollte. Der erste Eindruck von der Türkei: martialisch. Bewaffnete Soldaten mit Maschinengewehren als Grenzposten, türkische Flaggen und Symbole allerorten. Sultan Erdogan lässt grüßen! Understatement scheint definitiv keine türkische Tugend zu sein.
Da es noch etwas zu dauern schien, bis wir endlich an die Reihe kamen, liefen Tanja und ich schon mal vor, um nach der Grenzversicherung zu fragen. Zwar sprach von den Zöllnern keiner so richtig Englisch, aber überraschenderweise waren alle sehr hilfsbereit und freundlich – ein ziemlicher Kontrast zu der eher bedrohlich wirkenden Szenerie. Jedenfalls war man sehr bemüht, uns schnellstmöglich zu helfen. Die Lösung war dann eigentlich ganz einfach: Wir beide ließen „Sascha“ vor dem Grenzübergang stehen, reisten zu Fuß in die Türkei ein, nahmen dort das bereits bestellte und bereitstehende Taxi, fuhren im Schnellgalopp ins nahegelegene Edirne, schlossen dort im Versicherungsbüro für 80 Euro eine Zusatzversicherung ab und rasten mit dem Taxi wieder zurück zur Grenze. Danach ging es – vorbei an lachenden Zöllnern, die sichtlich froh waren, dass ihre Lösung funktioniert hatte – mit „Sascha“ abermals durch die Zollschranke. Mit einem freundlichen „Güle Güle“ und erneuten Streicheleinheiten fürs Kühler-Kamel ließen die Zollbeamten schließlich auch das dritte unserer Autos passieren.
Marcel hatte die Wartezeit währenddessen produktiv genutzt und zusammen mit einem der Grenzer offene Fragen aus dem Roadbook beantwortet. Wir wissen jetzt, was „Guten Tag“ auf Türkisch heißt, wer Kemal Atatürk war, wie viele Kinder er hatte (nämlich gar keine) und noch ein paar andere wichtige Dinge, um Punkte zu sammeln. Da wir in Griechenland am Strand schon unsere ganz eigene Interpretation des geforderten Apfelbaum-Fotos umgesetzt hatten, sind wir, was das Roadook angeht, wieder ganz gut im Rennen. Jetzt müssen wir nur noch einen Drachen bauen und ein paar Getränkedosen leertrinken, damit wir daraus eine Dosenkette fürs Auto basteln können. Was wir damit dann anfangen sollen, wissen wir selber noch nicht. Aber das wird sich schon zeigen…

Meiers große Stunde

Stadtverkehr in Istanbul ist Krieg. Der totale Darwinismus. Doch die Regeln sind einfach: Wer nicht reindrückt, wird weggedrückt. Für Lars, der von der Schwäbischen Alb eher die gemächliche Gangart gewöhnt ist, ein mittelgroßer Kulturschock. Dagegen schlug für Meier in Istanbul die große Stunde. Mit hämischem Grinsen und tollkühner Entschlossenheit stürzte er sich in den Straßenkampf und war als Fahrer des dritten Autos unserer Kolonne maßgeblich dafür verantwortlich, dass unser Team auch im Istanbuler Feierabendverkehr immer zusammenblieb.
Nach einer halbstündigen Ehrenrunde durch die Innenstadt – Abzweigung verpasst – landeten wir schließlich tatsächlich im Fahrerlager. Abends in Istanbul noch was Ordentliches gegessen und bei Schwarztee und Shisha standesgemäß den Abend ausklingen lassen. Jetzt schauen wir mal, was kommt. Um 8 Uhr soll es morgen weitergehen. Oder um 9. Man weiß es nicht genau …

 

Tag 6 – 5. Mai 2016: Istanbul → Sancaktepe

Wo bitte geht’s nach Sancaktepe?

Gefahrene Kilometer: 70
Fahrzeit: ungefähr drei Stunden

Guten Morgen Istanbul! Der Regen hat uns wieder. Gegen 8 Uhr regt sich erstes Leben im Fahrerlager. Allerdings wird es tatsächlich 9 Uhr, bis der gesamte Tross sich in Kolonne auf den Weg macht. Erstes Ziel ist der Sultan Ahmed-Platz vor der Blauen Moschee. Dort, wo wenige Wochen zuvor ein Selbstmordattentäter mehrere Touristen in die Luft gesprengt hat, soll der offizielle Empfang aller Rallyeteilnehmer erfolgen. Sogar der türkische Europaminister hat sich angekündigt. Und natürlich der Gouverneur der Stadt.
Unterwegs zum Platz wird die Karawane rasch vom gnadenlosen Istanbuler Stadtverkehr aufgerieben. Die wenigen Kilometer ziehen sich ordentlich in die Länge. Doch die Moschee ist ein leichtes Ziel. Schon von weitem sind ihre blauen Kuppeln und die sechs Minarette zu erkennen. Einziger Haken: Die zweite große Moschee Istanbuls, die Hagia Sophia, ist nur knapp 500 Meter entfernt. Das Risiko, irrtümlich das falsche Gebäude anzusteuern, ist also durchaus gegeben. Aber natürlich haben wir uns direkt für die richtige Moschee entschieden.
Auf dem Sultan-Ahmed-Platz tauschen wir als Erstes unsere Kennzeichenhalter gegen welche vom TÜV Türk. Das steht als Aufgabe so im Roadbook. Außerdem erhalten wir Postkarten, auf denen wir ein paar Zeilen über uns an türkische Kinder richten sollen, bevor wir sie bei einer TÜV Türk-Filiale im asiatischen Teil der Türkei wieder abgeben.
Die Ansprachen der Politiker interessieren uns eher wenig. Nach all dem, was wir am Rande trotzdem so mitbekommen, scheint das Geschwafel ähnlich inhaltsleer und oberflächlich, wie wir es zu Hause von dieser Spezies Mensch auch gewohnt sind. Nicht der Rede wert also. Unseren Rosenstock für den Istanbuler Friedensgarten haben wir ebenfalls schon abgelegt, und so warten wir nun an und in den Autos, bis sich der offizielle Teil der Veranstaltung dem Ende neigt.
Als der Konvoi wieder Aufstellung nimmt, reihen wir uns ein. Gemeinsam geht es in Richtung Bosporus-Brücke. Mit der eindrucksvollen Flussüberfahrt lassen wir Europa bis auf Weiteres hinter uns und stoßen das Tor zum asiatischen Kontinent auf. Wehende Fahnen und ein gellendes Hupkonzert unterstreichen diesen symbolträchtigen Akt. Der Ausblick von der Brücke ist phänomenal. Wir sind begeistert.
Nun nehmen wir Kurs auf unser Tagesziel, den Rallye-Park in der Region Sanctaktepe. Das ist einfach gesagt, erweist sich in der Realität jedoch als schwieriges Unterfangen, weil wir die Koordinaten des Ortes nicht kennen und auf unserer Karte keine Spur davon zu sehen ist. Sancaktepe ist ein dünn besiedeltes Gebiet – viele Dörfer bestehen nur aus wenigen Gehöften. Und wir haben keinen blassen Schimmer, wo genau wir hinsollen.
Vor dem Büro eines Kieswerks beobachtet eine Handvoll Männer von Weitem unsere Fahrt durch ihr Gelände. Warum nicht die Jungs nach dem Weg fragen? Die müssten es doch wissen! Gesagt, getan – wir werden etwas verdutzt, aber freundlich empfangen. Dumm nur, dass von den anwesenden Türken kein einziger Englisch spricht. Aber alle sind sofort entschlossen, uns zu helfen. Während zwei hektisch mit ihren Smartphones zu übersetzen versuchen, bringen uns zwei andere frisch gebrühten Tee. Der Fünfte im Bunde holt schließlich einen Kollegen dazu, der fließendes Englisch spricht. Perfekt! Scheinbar sind wir nur drei oder vier Kilometer vom gesuchten Platz entfernt. Einer der Türken bietet sich deshalb spontan an, uns mit seinem Auto zum Ziel zu lotsen. Die Hilfe nehmen wir natürlich gerne an. Aber erstmal trinken wir in aller Ruhe unseren Tee aus.

Sieger der Herzen

Angeführt vom ortskundigen Einheimischen erreichen wir den gesuchten Rallye-Park tatsächlich nach wenigen Minuten. Der Park liegt auf einer Anhöhe, von der man tolle Sicht auf die an Sancaktepe grenzenden Städte und einen kleinen See hat.
Der Park wurde den Organisatoren der Allgäu-Orient-Rallye für 99 Jahre zur Verfügung gestellt. Hier haben sich in den vergangenen Jahren diverse Rallye-Teams mit allerhand Aufbauarbeiten verewigt. Sie haben eine Hütte gebaut, Toiletten errichtet und Bäume gepflanzt. Und wir? Wir genießen. Und schauen uns um.
Ein erster kurzer Blick über das Gelände lässt uns erleichtert feststellen: Wir sind nicht die Letzten. Trotz Teepause! Bei Ayran und türkischen Spezialitäten vom Grill lassen wir die Dinge ihren Gang gehen und freuen uns darüber, einfach mal nirgendwohin mehr fahren zu müssen. Zwischenzeitlich hat sich auch die Sonne zu einem Besuch entschlossen, so dass man es auf dem Gelände bestens aushalten kann.
Am späten Nachmittag ist der Drachenwettbewerb angekündigt. Das Ingenieurbüro unseres Teams, bestehend aus Lars und Marcel, hat sich aufgrund Materialknappheit für eine Miniatur-Konstruktion entschieden, die die aktuell im Fahrzeugbau vorherrschenden Trends aufgreifen soll: Downsizing und Leichtbau. Leider bekommen sie ihren durchaus ambitionierten Entwurf, bestehend aus einer Plastikfolie und zwei Strohhalmen, nicht wirklich in die Luft. Allerdings sammeln wir mit dem kleinsten Drachen im Feld viele Sympathiepunkte. Der Titel „Sieger der Herzen“ ist uns deshalb sicher. Das reicht uns – zumindest für heute.
Den Abend lassen wir bei guter Musik, Bier und Whiskey auf den Autos des Teams „Fehlzündung“ ausklingen. Um kurz nach Mitternacht hauen wir uns in die Schlafsäcke. Ein echtes Luxusproblem bahnt sich an: Sollen wir den Wecker auf 8 oder auf 8.30 stellen?


Tag 7 – 6. Mai 2016: Sancaktepe → Haymana

Die Kupplung rutscht durch!“

Fahrstrecke: 530 km
Fahrzeit: 11,5 Stunden (inklusive Pausen)

Der Tag beginnt entspannt – und für unsere Verhältnisse ziemlich spät. Erst gegen 10.30 verlassen wir Sancaktepe in Richtung Ankara. Wir fahren nicht allein, sondern haben Verstärkung dabei: Zusammen mit dem Team Fehlzündung und den Unicamels rollen wir los ins nächste Abenteuer. Drei Teams, neun Autos, 18 Personen Besatzung – das macht Eindruck. Wo immer wir auch auftauchen, sind wir die Sensation des Tages. In den Dörfern und Kleinstädten, die wir durchfahren, werden wir geradezu euphorisch begrüßt.

200 Kilometer vor Ankara, im Städtchen Kaynasli, legen wir einen Stopp ein, um in einem Hotel schnell unter die Dusche zu springen. Wir haben das allesamt bitter nötig und deshalb sind wir froh, dass das Hotelpersonal uns unbürokratisch für 100 Lira drei Hotelzimmer bereitstellt, in denen wir uns der Reihe nach frischmachen können. Im „Crazy Café“ direkt nebenan hat man unsere Ankunft natürlich ebenfalls bemerkt. Wirt und Belegschaft machen eifrig Fotos und winken uns direkt zum Tee zu sich herein. Und weil es uns in dem kultigen Laden mit seinen Holzwänden und der offenen Fensterfront so gut gefällt, bestellen wir auch gleich noch einen Happen zum Essen. Kein Fehler, denn die Küche kann richtig was. Die türkische Kochkunst steht der griechischen in nichts nach, so viel ist sicher.

Richtig wohl im Bauch ist es uns allerdings zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Und das liegt nicht am Essen. Wir machen uns Sorgen um „Lila“. Die Kupplung scheint mit rasanten Schritten ihrem Exitus entgegenzumarschieren. Panisch hören wir Marcel aus dem Funkgerät keuchen: „Die rutscht durch! Die Kupplung rutscht durch!“ Der Istanbuler Stadtverkehr hat ihr offenbar so zugesetzt, dass sie nun auf dem letzten Loch pfeift. Die bange Frage treibt uns um: Hält das Ding? Oder brauchen wir eine neue Kupplung?

Ein Besuch in der Volvo-Werkstatt in Ankara soll Klarheit bringen. Deshalb brechen wir in Kaynasli vorzeitig die Zelte ab, um vor 20 Uhr in Ankara sein zu können, damit der gute Werkstattmeister nicht extra wegen uns zum Wochenende eine Sonderschicht einlegen muss. Sicherheitshalber haben wir nämlich vorher schon telefoniert und unseren Besuch angekündigt. Nun pirschen wir uns auf samtenen Sohlen Kilometer um Kilometer an die türkische Hauptstadt heran – und diskutieren unterwegs alle denkbaren Szenarien durch. So lange fahren, bis die Kupplung ganz durchraucht? Gleich eine neue einbauen lassen und einen Tag in der Werkstatt verlieren? Oder der GAU: „Lila“ aufgeben und mit zwei Autos weiterfahren?

Die Experten von Yigit Volvo in Ankara sehen die Sache nach einer Probefahrt nüchtern: Die Kupplung arbeitet hart an der Grenze – aber sie arbeitet. Noch! Deshalb entscheiden wir gemeinsam, es erst einmal dabei zu belassen, sicherheitshalber aber eine neue Kupplung als Ersatzteil ins Gepäck zu werfen. 180 Euro soll das gute Stück kosten. Wir bieten 150 – und kommen ins Geschäft.

Mit dem Ersatzteil, jeder Menge Yigit Volvo-Duftbäumen und ein paar Aufklebern im Gepäck setzen wir unsere Reise fort und erreichen eine gute Stunde später das Fahrerlager im Kurort Haymana, 70 Kilometer südlich von Ankara. Natürlich haben wir die Yigit-Mechaniker vor der Abfahrt „Lilas“ Motorhaube signieren lassen – als Glücksbringer, für alle Fälle. Denn auch wenn wir jetzt eine Ersatzkupplung durch die Gegend bugsieren, wirklich einbauen wollen wir das Ding nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss. Hoffen wir also, dass wir weiter gut durchkommen und „Lila“ nicht vor dem Zieleinlauf das Zeitliche segnet…

 

Tag 8 – 7. Mai 2016: Haymana → Ankara → Beypazari

Stock Car Challenge im Hippodrom

Fahrstrecke: 230 km
Fahrzeit: 8 Stunden (inklusive Pausen)

Welchen Tag haben wir heute? Tatsächlich schon Samstag? Sind wir wirklich seit einer Woche schon unterwegs? Wir können es kaum glauben, wie schnell die letzten Tage verstrichen sind. Und doch ist es wahr: Das erste Drittel der Allgäu-Orient-Rallye 2016 liegt hinter uns. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist, dass wir noch zwei Wochen vor uns haben. Und die werden wir in vollen Zügen genießen!

Überhaupt häufen sich heute die guten Nachrichten. „Lila“ schnurrt heute wieder wie ein Kätzchen, nachdem Marcel ihr am Morgen in Haymana eine ordentliche Standpauke gepredigt hat. Die Kupplung arbeitet ohne Murren und macht selbst im zähen Großstadtverkehr von Ankara keine Scherereien. Und das Wetter wird endlich auch besser. Nur ganz selten perlen heute die Regentropfen von unseren Windschutzscheiben. Meistens scheint – man mag es kaum glauben – tatsächlich die Sonne. So soll es bitte bleiben. Denn so macht es richtig Spaß, zu fahren.

Viele Kilometer stehen heute zwar nicht auf dem Plan, aber Action verspricht der Tag trotzdem zur Genüge. Als erstes fahren wir von Haymana über hügelige, vierspurig ausgebaute und schwach befahrene Landstraßen die 70 Kilometer zurück nach Ankara. Dort ist unser Ziel das Hippodrom, ein großes, abgesperrtes Gelände westlich der sehenswerten Altstadt Ankaras. Wir sind gespannt, was uns erwartet, denn im Roadbook ist ein „Le Mans-Start“ angekündigt. Was das ist? Ganz einfach: In den guten alten Zeiten des 24-Stunden-Rennens von Le Mans gab es eine spezielle Startchoreographie. Alle Fahrer mussten sich gegenüber ihren Autos in einer Reihe aufstellen. Von da aus galt es, beim Ertönen des Startsignals im Sprint so schnell wie möglich das eigene Fahrzeug zu erreichen und möglichst als erster davonzufahren. So viel zur Theorie. Die Realität ist, dass diese Form des Starts in Le Mans schon vor vielen Jahren verboten wurde – zu gefährlich. Zu den guten alten Zeiten gingen in Le Mans etwa 20 Fahrzeuge an den Start. Wir probieren genau diese Prozedur heute mit 200 Fahrzeugen!

Auf Biegen und Brechen

Minuten vor dem Start ist die Spannung greifbar. Alle Rallyeautos stehen in Reih‘ und Glied entlang des Hauptplatzes, auf der gegenüberliegenden Seite warten Piloten und Co-Piloten auf den Countdown. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Dann wird es ernst. Gemeinsam mit der Rallyeleitung zählen wir laut die letzten zehn Sekunden herunter. Bei „Null“ gibt es kein Halten mehr. Alles stürmt wie wild über den Platz in die Autos, um sich eine möglichst gute Ausgangsposition für das Rennen zu erkämpfen. Wir wissen, dass wir mit unseren Volvos leistungstechnisch eher im Mittelfeld liegen, deshalb kommt es bei uns besonders auf den Start an. Doch der läuft alles andere als glatt: Bei allen drei Autos klemmen die Gurte, erst im zweiten oder dritten Anlauf können wir uns festschnallen. Dann geht es mit Vollgas nach vorn. Die ersten Gegner sind schon an uns vorbeigeschossen – jetzt müssen wir die fehlende Power eben durch Wahnsinn ausgleichen. Meier und Marcel scheinen das besonders wörtlich zu nehmen. Ungebremst rasen die Beiden mit „Lila“ rechts außen auf die erste Kurve zu, nehmen diese ohne Probleme und machen so an die zehn Plätze gut. Doch schon in der nächsten Kurve kommt die Retourkutsche. Zwei Vollkontakt-Begegnungen werfen „Lila“ wieder zurück. Währenddessen kämpfe ich mich mit „Ingeborg“ in der Mitte eines Pulks nach vorne, dicht gefolgt von Tanja und Lars mit „Sascha“. Die zersägen todesmutig einen T4-Bus vom Team „Schwobastyle“ und biegen knapp hinter mir in die nächste Haarnadel ein. Rouven hält das Spektakel derweil von draußen mit der Kamera fest.
Plötzlich wird die Strecke immer enger. Durch die nächste Kurve passt definitiv nur ein Fahrzeug auf einmal. Ein Hauen und Stechen beginnt, hier wird sich nichts geschenkt. Harte Bandagen! Eine Atmosphäre wie beim Stockcar-Rennen, die fetzige Beatmusik, die aus den Boxen in meine Ohren dröhnt, tut ihr übriges. Im Staub des Kampfes fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Nur eines ist wichtig: Plätze gutmachen, und das möglichst ohne Anecken. Im Pulk geht es durch Haarnadeln und S-Schikanen, einmal durch das ganze Hippodrom. Zweimal bekommt „Ingeborg“ von Gegnern auf den Hintern, doch sie steckt die Antatschversuche weg wie eine Lady – ohne bleibende Schäden. Auch die anderen beiden Boliden unseres Teams erreichen ohne gravierende Blessuren das Ziel. „Lila“ hat sich rechts hinten eine Beule eingefangen, „Sascha“ verlässt die Kampfarena vollkommen unversehrt.
Das Adrenalin sprüht allen Beteiligten wie Funken aus den Augen, als wir nach dem Ende der Schlacht aus den Autos steigen. Geil! Wir hätten problemlos noch ein paar Runden mehr vertragen.
Stattdessen aber geht es kurz danach raus aus dem Hippodrom, zurück in Ankaras Großstadtdschungel. Die Tagesaufgabe, ein Foto vor der Burg oben in der Altstadt, sparen wir uns. Wir haben keine Lust mehr auf stressigen Stadtverkehr, sondern wollen auf dem Weg zu unserem Tagseziel Beypazari (100 Kilometer westlich von Ankara) lieber irgendwo was zu Essen einwerfen. Die Crash-Car-Runde hat uns hungrig gemacht…

Ein ganz normaler Feierabend

In Ayas, auf halber Strecke also, kehren wir ein, trinken Tee und bestellen Manti, eine Art Tortellini, serviert mit Joghurt-Tomatensoße. Schmeckt ziemlich gut, auch wenn Manti traditionell kalt serviert wird und wir eher mit einer warmen Mahlzeit gerechnet hatten. Im Anschluss steuern wir unseren Zielort Beypasari an, wissen nicht, wo genau wir hin sollen, fahren den Schweizern vom Team „Smile“ hinterher, landen auf einem Hügel am Rande der Stadt, wo es nach Lavendel duftet, merken, dass wir falsch sind, machen uns nichts draus sondern trinken ein Bier mit den Schweizern, fahren wieder in die Stadt, biegen dieses Mal richtig ab, parken die Karren und krönen den Tag mit Efes-Bier aus der Flasche, Rockmusik und Dummgeschwätz, Selfie mit dem Bürgermeister inklusive. Das Leben kann so schön sein!
Morgen geht es dann Richtung Nordosten. Hoffentlich bleibt uns das Wetter wohlgesonnen. Geregnet hat es nämlich wahrhaftig genug…

 

Tag 9 – 8. Mai 2016: Beypasari → Çorum → Merzifon

Die erste Chinesen-Rallye

Gefahrene Kilometer: 510
Fahrzeit: 11 Stunden (inklusive Pausen)

Der Sonntagmorgen begrüßt uns gut gelaunt mit strahlend blauem Himmel und jeder Menge Sonnenschein. Da steht man doch gerne auf! Auch wenn es gestern Nacht wieder ein wenig länger geworden ist.
Gegen 10.30 brechen wir auf. Unser erstes Ziel ist die Stadt Çorum. Etwa 400 Kilometer Fahrstrecke – wenn man die langweilige Route nimmt. Wir entscheiden uns aber für die schönere und packen so noch gute 100 Kilometer oben drauf. Die Investition lohnt sich: Durch das schroffe Felspanorama klettern wir auf angenehm geschwungenen Hinterlandstraßen nach oben und wieder hinunter, kreuzen Bauerndörfer und Kleinstädte und sind mal wieder beeindruckt von den gravierenden Kontrasten, die sich zwischen Stadt und Land offenbaren. Hier die Millionenmetropolen mit solider Infrastruktur, modernem Antlitz und typischer Großstadtatmosphäre, dort die Bauernflecken, marode Höfe und Lehmhütten. Die gravierenden Unterschiede zwischen Stadt und Land zeigen auf, dass die Türkei nach wie vor ein Schwellenland ist, das noch eine Menge aufzuholen hat, um flächendeckend auf ein ähnliches Niveau wie die meisten mitteleuropäischen Nationen zu gelangen.
In Çorum angekommen, müssen wir eine bestimmte Autowerkstatt suchen, um dort vom Rallye-OK weitere Informationen über die Strecke bis zu unserem Tagesziel Merzifon zu erhalten – die erste „Chinesen-Rallye“ steht an. Das bedeutet im Normalfall die Orientierung anhand vorgezeichneter Wegsymbole, die in einer bestimmten Abfolge zu passieren sind. In unserem Fall erfolgt die Navigation mittels Fotos. Jedes Foto stellt einen Orientierungspunkt dar. Durchfährt man diesen, kommt das nächste Bild an die Reihe. Das Ganze hat was von Memory spielen und ist ziemlich lustig.
Bevor wir richtig loslegen können, müssen wir aber in der Innenstadt von Corum noch eine große Standuhr finden und ein Kilo gebratener Kichererbsen kaufen. Beides erledigen wir dank korrekter Navigation und dank des freundlichen Snackverkäufers im Handumdrehen und nehmen uns danach noch die Zeit, einen liebevoll gerollten Dürüm mit Pommes zu essen.Wohlgemerkt, mit Pommes im Dürum, nicht zum Dürüm!

Schlammschlacht mit Hindernissen

Als wir uns schließlich auf den Weg nach Merzifon machen, ist es bereits dunkel. Die Navigation anhand der Fotos gelingt trotzdem problemlos. An der letzten Weggabelung, 50 Kilometer vor Merzifon, biegen wir in die am Morgen versprochene Offroad-Strecke ab.
Zunächst offenbart sich diese lediglich als schlecht asphaltierte, löchrige Mini-Straße durch die Prärie, dann wechselt der Belag irgendwann von Beton zu Schotter, um wenige Kilometer später als astreine Schlammkuhle zu enden. Uns macht das nichts aus, im Gegenteil! Mit Wonne schieben wir unsere Volvos durch den Morast, arbeiten uns Stück für Stück voran, lassen den Dreck spritzen und machen die Rutschpartie zum Colin McRae-Gedächtnislauf. Bloß nicht stehen bleiben, heißt die Devise. Denn aus Erfahrung wissen wir: Wer anhält, bleibt hängen.

Leider scheinen das nicht alle Teams verstanden zu haben. Schon auf der Schotterpiste haben wir zu zwei 5er BMW mit Bamberger Kennzeichen aufgeschlossen, die im Schneckentempo über die Piste humpeln. Und dann, mitten auf dem glitschigsten Part der ganzen Strecke, begehen die Bamberger den verhängnisvollen Fehler: Sie bleiben stehen. Und hängen fest. Natürlich! „Stadtmenschen …“ denken wir uns kopfschüttelnd und schicken ein paar Flüche in den Nachthimmel. Doch nur fluchen bringt nichts. Wir können die Franken, die mit den Straßenverhältnissen sichtbar überfordert sind, ja nicht einfach steckenlassen. Macht man nicht. Deshalb öffnen wir unsere Türen, steigen aus – und stehen sofort knöcheltief im Schlamm. So ein Mist! Aber was soll’s, der BMW muss irgendwie weg, sonst kommen wir selber auch nicht mehr weiter. Beschwichtigend reden wir auf den verzweifelten Fahrer ein, etwas kontrollierter Gas zu geben. Wir rütteln und zerren währenddessen so lange an der Karre, bis es uns tatsächlich gelingt, das bayrische Dickschiff freizusetzen. Geschafft! Interessanterweise ist der andere BMW des Bamberger Teams zu der Zeit längst über alle Berge. Da war sich wohl jemand zu schade, sich die Schuhe dreckig zu machen. Teamwork sieht anders aus! Da auch der zweite BMW nach seiner Befreiung sofort und ohne ein „Dankeschön!“ Reißaus nimmt, wischen wir uns die Dreckklumpen aus dem Gesicht und wenden den Blick wieder auf unsere Volvos. Kommen wir jetzt da wieder raus?
Nummer eins schafft es ohne Probleme: Sicheren Schrittes bugsiert Rouven „Ingeborg“ durch die Schlammrennbahn, bis er hinter der Kurve wieder auf einigermaßen festes Terrain stößt. Doch schon beim zweiten Auto verlässt uns das Glück: Marcel versucht, „Lila“ links am Schlammloch vorbeizubugsieren, rutscht aber ab – und landet mit den Vorderrädern genau dort, wo vorher der BMW eingesunken war. Im hohen Bogen spritzt der Dreck von den durchdrehenden Vorderrädern. Aber „Lila“ bewegt sich keinen Meter mehr. Natürlich ist von den BMW, wegen denen wir jetzt in dem Schlamassel hier stecken, längst nichts mehr zu sehen. Solidarität scheint für manche Rallyeteilnehmer ein Fremdwort zu sein. Dann müssen wir uns eben selber helfen!

Nun übernimmt Lars die Führung. Als Dorf-Urgestein von der Schwäbischen Alb weiß er genau, was in solcher Lage zu tun ist. Kurzerhand setzt er sich mit dem dritten Volvo vor „Lila“. Wir befestigen das Abschleppseil und tatsächlich gelingt es uns nach einigen Sekunden zähen Ringens, „Lila“ aus den klebrigen Fängen des Morasts zu befreien. Wir sehen aus wie Sau, sind mit Dreckspritzern übersäht – aber wir können weiterfahren.
Eine halbe Stunde später erreichen wir Merzifon. Erst dort erfahren wir, dass die Strecke, die wir gefahren sind, vom Rallye-OK kurzfristig gesperrt worden war, weil die Straßenverhältnisse wegen der Regenfälle in den letzten Tagen zu heikel seien. Irgendwie ging das mal wieder an uns vorbei. Wir mussten ja auch unbedingt vorher noch was essen… Aber halb so wild, schließlich sind wir nicht von Pappe. Unsere Schwedenstahl-Boliden haben sich wacker durchgekämpft. Wären die BMW nicht gewesen, hätten wir uns noch nicht mal schmutzig machen müssen.

 

Tag 10 – 9. Mai 2016: Merzifon → Giresun

Durchs Gebirge bis ans Meer

Fahrstrecke: 420 km
Fahrzeit: 12 Stunden (inklusive Pausen)

Morgens halb 10 in Merzifon. Die Sonne scheint. Blauer Himmel grüßt durch unsere getönten Seitenscheiben. Da das Fahrerlager gestern voll war, sind wir zusammen mit dem Team Fehlzündung in einer Seitenstraße des Gewerbegebiets von Merzifon gelandet. Hört sich schlechter an, als es war. Immerhin hatten wir in der Nacht unsere Ruhe.
Nun aber heißt es: aufsitzen! Unser heutiges Tagesziel Giresun liegt direkt am Schwarzen Meer, etwa 400 Kilometer von uns entfernt. Natürlich entscheiden wir uns einstimmig, nicht den direkten Weg über die an der Küste entlang führende Fernverkehrsstraße zu nehmen, sondern uns durchs Gebirge hindurch ans Meer vorzuarbeiten. Schließlich wollen wir so viel wie möglich vom Land sehen – der Zeitfaktor ist sekundär. Die Türkei hat uns mit ihrer vielfältigen, teils schlicht atemberaubenden Natur und ihren so freundlichen, aufgeschlossenen Menschen längst in ihren Bann gezogen.
Bei Havza verlassen wir deshalb die ausgetrampelten Pfade und biegen ins bergige Niemandsland ab. Hier macht es einfach nur Spaß, zu fahren. Das Wetter ist perfekt, die Straßen schwingen sich in herrlicher Harmonie durch das Gebirge, die Aussicht ist genial und der Verkehr ist spärlich. Unterwegs begegnen uns mehr Kühe als Autos. Hier auf dem Land setzt man außerdem noch auf Esel als Transportmittel. Etwas tückisch, wenn solch ein Gespann unmittelbar hinter einer Kurve plötzlich vor einem auftaucht.

Ab ins kühle Nass

Auf knapp 1.000 Metern Höhe, irgendwo zwischen zwei kleinen Bergdörfern, machen wir Rast und packen den Proviant aus, den wir vorhin in Havza gekauft haben. Von unten schallt der Ruf des Muezzin durch das Tal, der die Dorfbewohner zum Gebet zitiert, während wir uns auf den Hauben unserer Autos Schafskäse, Brot und Gemüse schmecken lassen.
Ein paar Kilometer weiter kreuzen wir ein kleines Rinnsal, das uns fortan auf unserem Weg begleitet, unterwegs zu einem stattlichen Fluss heranwächst und im Tal schließlich in einem gewaltigen Stausee verschwindet. Der Flusslauf schimmert so einladend türkisblau und die Sonne strahlt dermaßen verlockend, dass wir uns kurzerhand entschließen, der Verheißung nachzugeben und an einer schönen Badestelle in die Fluten zu springen. Der beherzte Sprung ins eiskalte Wasser lässt manchem zwar fast das Blut in gewissen Körperteilen gefrieren, aber immerhin sind danach alle wieder fit genug, um ein letztes Mal die herrliche Felskulisse zu genießen, die uns an diesem paradiesischen Platz umsäumt. Denn schon ein paar Kilometer weiter nördlich, bei Bafra, biegen wir auf die Fernstraße ein, die uns am Schwarzen Meer bis nach Giresun führen soll.

Was auf den ersten Blick ganz attraktiv klingt, entpuppt sich als ödes, emotionsloses Kilometer schrubben, weil die gesamte Schwarzmeerküste dermaßen zugebaut ist, dass man vom Meer selber gar nichts mehr sieht. Kurz vor Ordu, wo die Hauptstraße noch einmal vom Wasser wegführt, entschließen wir uns deshalb, abzufahren und uns einmal mehr über die Nebenstraßen zu schlängeln. Vielleicht, so unsere Hoffnung, finden wir in einem der Fischerdörfer ja ein nettes Restaurant zum Abendessen.

Hausmannskost zur Blauen Stunde

Die ersten, ziemlich trostlos anmutenden Dörfer nähren diese Hoffnung eher nicht. Die Häuser marode, ein faulig-fischiger Gestank in der Luft, versprühen diese Flecken so gar nicht die romantische Atmosphäre, die wir uns in unseren Köpfen schon so schön ausgemalt haben. Ein paar Kilometer weiter jedoch, im Örtchen Kavanla, erblicken wir links eine Gartenwirtschaft mit direktem Blick aufs Meer. Danach haben wir gesucht!

Zwar gibt es insgesamt nur drei Essen zur Auswahl – Salat, Köfte, Sardellen -, doch Köchin und Kellner, allem Anschein nach Mutter und Sohn, geben ihr Bestes, um uns den Aufenthalt so schön wie möglich zu gestalten. Einfache Leute, einfaches Essen – einfach eine gute Mischung! So genießen wir mit Blick aufs Meer die Blaue Stunde, schlürfen unseren Schwarztee und machen uns danach auf nach Giresun. Dort ist das Fahrerlager abermals überfüllt, und so parken wir gute 500 Meter weiter an der Uferpromenade, klettern über die Felsbrocken in Richtung Wasser und begießen dort mit Efes aus der Dose einen weiteren grandiosen Tag auf unserem Road Trip. Morgen geht es weiter – wir verlassen für zwei Tage die Türkei und fahren nach Georgien. Mal sehen, was dieses Land an Erlebnissen für uns bereithält!

 

Tag 11 – 10. Mai 2016: Giresun → Batumi (Georgien)

Kirschen oder Haselnüsse?

Fahrstrecke: 507 km
Fahrzeit: 12 Stunden (inklusive Pausen und Warten an der Grenze)
Grenzübergänge: 1

Der neue Tag beginnt mit Frühstück direkt am Meer. Nicht wirklich idyllisch, da wir ja direkt an der Hauptstraße auf der Promenade stehen. Aber die Sache hat trotzdem Stil. Da wir auf den Hauben unserer Autos wie auf dem Präsentierteller sitzen, sprechen uns immer wieder Passanten an. Autofahrer hupen, Fußgänger machen Bilder. Zwar kann fast keiner von denen, die mit uns reden wollen, Englisch oder Deutsch, trotzdem lösen wir auf diese Weise unsere Tagesaufgabe von gestern: herausfinden, woher die Stadt Giresun ihren Namen hat. Die Lösung? Irgendwas mit Haselnüssen. So erklärt es uns zumindest ein älterer Herr in stark gebrochenem Englisch. Die Region muss ein großes Haselnusszentrum sein und scheint der Nuss einiges zu verdanken zu haben. Zumindest, so der Mann weiter, hätten sie in Giresun der Haselnuss einen eigenen Showroom gewidmet. Dass wir mit dieser Antwort komplett auf dem Holzweg sind, erfahren wir erst viele Tage später von Wikipedia. Nix Haselnüsse – die Kirsche wären die gesuchte Frucht gewesen, der die Stadt ihren Namen verdankt. Knapp vorbei, könnte man sagen …

Was will der alte Mann uns sagen?

Natürlich entscheiden wir uns nach dem Frühstück, zunächst wieder ins Gebirge zu fahren und erst so spät wie möglich auf die unvermeidbare Küstenstraße einzubiegen, die uns nach Georgien bringen soll. Deshalb verlassen wir die Schwarzmeerküste bei Tirebolu und folgen einem Flusslauf ins Hochland. Das Zigana-Gebirge erwartet uns. Abermals eröffnet sich uns damit eine spektakuläre Berg-undTal-Kulisse. Jenseits des Flusses, der offensichtlich Hochwasser führt, geht es fast senkrecht bergauf. Die wenigen Häuser, die dort aus den dichten Büschen herausstechen, sind von der Straße aus nur über schmale, alte Holzbrücken zu erreichen, die alle paar Kilometer das Flussbett kreuzen. Die Dinger sehen so brachial marode aus, da müssen wir uns einfach eine davon näher anschauen!

Tatsächlich tragen die Brücken mehr, als man ihnen zunächst zutraut. Das liegt aber weniger an den leicht morschen Holzbrettern, über die man drübergehen muss, sondern an den darunter gespannten Drahtseilen. Das Ding wackelt trotzdem wie ein Kuhschwanz und schwingt sich bedrohlich auf, wenn man in der Mitte ein wenig am Geländer rüttelt. Lustige Sache …

Zwischen den dichten – wer sagt’s denn – Haselnussbüschen entdecken wir einen alten Mann, mit dem wir sofort ins Gespräch kommen. Also, irgendwie. Denn wieder mal spricht der eine kein Wort einer Sprache, die der andere spricht. Der Alte erzählt mit wilden Gesten irgendwas von Terroristen, Autobomben und Leuten, die von den Bergen herunterschießen. Dabei zeigt er auf der Karte vehement auf die Stadt Gümüshane, an der wir nördlich vorbeifahren. Was will er uns damit sagen? Dass die Region gefährlich ist? Krisengebiet? Oder redet er von Dingen, die er in der Vergangenheit selber erlebt hat? Wir wissen es nicht und sind etwas verunsichert. Der Panzer, der ausgerechnet in diesem Moment um die Ecke geschossen kommt, hilft da nicht unbedingt. Trotzdem entscheiden wir uns nach einem kurzen Check bei Google, weiterzufahren.

Wir werden nicht enttäuscht. Je weiter wir uns Gebirge kommen, desto genialere Eindrücke dringen durch die Scheiben unserer Autos. Berge mit schneebedeckten Gipfeln erstrecken sich über unser Sichtfeld. Immer wieder fahren wir an Wasserkraftwerken vorbei – auf dreispurigen Straßen! Respekt, was die Türken da in luftiger Höhe an Infrastruktur in die Felsen gezimmert haben.

Im Zickzack nach Georgien

Unser Weg führt uns in den Altindere-Nationalpark, wo wir uns das beeindruckende, christliche Sümela-Kloster anschauen, das im 4. Jahrhundert in monumentaler Bauweise direkt in den Fels gebaut wurde und sich majestätisch an den Felsen schmiegt – fast 300 Meter über dem Boden. Da sich die Geröllpiste, die am Kloster vorbei über den Bergkamm führt, schon auf den ersten Metern als zu heftig für unsere Autos – vor allem für die tiefen E-Klassen der Fehlzünder – erweist und uns ein entgegenkommender Einheimischer energisch davor warnt, weiterzufahren, machen wir Kehrt und fahren zurück an die Küste. Inzwischen ist es bereits nach 17 Uhr und wir wollen irgendwann ja auch mal ankommen. Bei Trabzon biegen wir deshalb wieder auf die Fernstraße ein und fahren direkten Weges an die Grenze. Dort erwarten uns eine elend lange Warteschlange und dutzende Fußgänger, die offenbar auf Busse warten. Scheinbar ist der Grenzübertritt aus der Türkei nach Georgien nicht ganz so unkompliziert, wie wir Europäer das aus dem Schengen-Raum gewohnt sind. Dann warten wir eben. Und warten. Und warten.
Währenddessen legen wir uns mit renitenten türkischen Parkplatzbesitzern an, deren Einfahrt wir (aus Versehen) blockieren, und verteidigen unsere Position in der Schlange offensiv gegen einen Drängler mit Pickup. „Don’t mess with the Germans!“, so lautet die klare Botschaft an jeden, der uns nach hinten drängen will. Dabei erhalten wir Unterstützung von einem jungen Türken, der den Drängler kurzerhand damit bestraft, dass er sämtliche Rallye-Autos, die sich hinter uns in der Schlange eingereiht haben, zu uns nach vorne lotst und sie vor dem wutschnaubenden Pickup-Fahrer einfädeln lässt. Man muss eben nur die richtigen Leute kennen …

Der Grenzübergang selbst, nach zwei Stunden Wartezeit, ist unkompliziert. Wir fahren durch insgesamt vier Schleusen hindurch und werden auf der anderen Seite von freundlichen georgischen Grenzerinnen und Schildern mit sehr kuriosen, schnörkeligen Schriftzeichen in Empfang genommen: „კეთილი იყოს თქვენი მობრძანება!“ – Herzlich Willkommen in Georgien!

Bei Batumi, 14 Kilometer hinter der Grenze, steuern wir erst das Fahrerlager an, entscheiden uns dann aber, auf ein altes sowjetisches Militärgelände auszuweichen, das nur wenige Kilometer außerhalb liegt. Hier verbringen wir eine ruhige Nacht zwischen Bunkern, Kühen und verfallenen Wachtürmen und brechen am nächsten Morgen nach Tiflis auf. Dort werden wir niemals ankommen. Aber das können wir ja jetzt noch nicht wissen.

 

Tag 12 – 11. Mai 2016: Batumi → Akhaltsikhe

Begegnung mit Folgen

Fahrstrecke: 170 km (aber die hatten’s in sich!)
Fahrzeit: 12 Stunden (inklusive Pausen und Warten auf die Versicherung)

Rumms! Der Traum von Tiflis zerschellt an der zweiten Kreuzung in Batumi, auf dem Weg zum Versicherungsbüro. Weil unsere Kfz-Versicherungen in Georgien nicht gelten, das Büro an der Grenze gestern Nacht schon zu hatte und die Georgier fahren wie die Henker, wollen wir – zusammen mit dem Team Fehlzündung – in der Stadt eine Zusatzversicherung buchen. Dieser Plan wird jäh von einem weißen Ford Transit durchkreuzt, der von rechts in die Kreuzung donnert und den dritten Mercedes der Fehlzünder mit Vollkaracho aus dem Rennen schießt. Die Karre ist Schrott, beide Unfallparteien nicht versichert und die Polizei schneller vor Ort als ein Ferrari von 0 auf 100. Natürlich spricht auch keiner Englisch, Deutsch sowieso nicht. Chaos! Was nun? Warten ist erst mal die erste Bürgerpflicht. Warten, bis der Schaden geschätzt ist und alle Formalitäten geklärt sind. Solange wird der Benz in Polizeigewahrsam genommen, während wir und die verbliebenen Fehlzünder-Besatzungen die Versicherungsbüros der Stadt stürmen, um unsere Autos unter schützende Obhut zu stellen. Zu allem Überfluss gießt es in Strömen, was das ohnehin triste Stadtbild von Batumi noch trostloser dreinschauen lässt. Unser einziger Trost in diesem Augenblick: Zum Glück nur Blechschaden. Ansonsten haben wir Georgien voll auf dem falschen Fuß erwischt – schlechter hätte der Start kaum aussehen können…

Im zweiten Anlauf

Zum Glück ist Batumi bei allem Verdruss aber auch voller netter, hilfsbereiter Menschen. Da ist die charmante McDonald’s-Bedienung, die mit ihrem Lächeln und ihren Deutschkenntnissen jeden Unmut verblassen lässt. Da ist der Taxifahrer, der uns Kekse schenkt und uns mit einer veralteten Grußformel, die einem bekannten deutschen Staatsmann huldigt, verabschiedet. Da ist der Passant, der am Unfall vorbeikommt und sich spontan bereit erklärt, als Dolmetscher zu fungieren, weil er mal in Deutschland gelebt hat. Und da sind Giorgi und Resza, zwei junge Versicherungsmakler, die uns zwar keine Versicherung mehr verkaufen können, weil wir schon eine haben, die uns aber spontan zum Grillen, Bootfahren und Weintrinken einladen, uns Ausflugstipps geben und uns mit leuchtenden Augen ihre Sympathien für deutsches Bier offenbaren. Da wir die Einladung aus Zeitgründen leider ablehnen müssen, versprechen wir, Georgien bald wieder zu besuchen und verschenken zum Abschied unsere letzten beiden Flaschen Meckatzer. Es ist immer wieder beeindruckend, welche Emotionen profaner deutscher Gerstensaft auszulösen vermag…

Da es inzwischen nach 16 Uhr ist und wir bis nach Tiflis mindestens sechs, wahrscheinlich eher sieben Stunden bräuchten, entscheiden wir uns, Georgiens Hauptstadt links liegen zu lassen und uns stattdessen im grenznahen Hochland auszutoben. Neues Ziel ist Akhaltsikhe, das Zentrum der Region Samzche-Dschawachetien auf 1.029 Metern Höhe. Dafür müssen wir durch den Kleinen Kaukasus, über den Goderdzi-Pass und wieder hinab ins Tal. Und tatsächlich gibt sich Georgien alle Mühe, die zweite Chance zu nutzen, die wir dem Land nach dem Fehlstart in Batumi gewähren: Als wir die ersten Ausläufer des Gebirges passieren, lassen wir die graue Wolkenwand hinter uns. Blauer Himmel, herrliches Frühlingswetter und fröhliche Dorfmenschen heißen uns stattdessen willkommen. Ein klares Zeichen: Wir haben die richtige Entscheidung getroffen!

Wo früher einmal Asphalt war

Die Straße nach Akhaltsikhe ist in unserer Karte als „Hauptstraße“ deklariert. Aber wahrscheinlich nur, weil es sonst einfach keine andere Straße dorthin gibt. Eigentlich haben wir nur knapp 170 Kilometer zu fahren – aber die fordern uns alles ab! Der erste Teil der Strecke, der sich durch beschauliche Bergdörfer schlängelt, ist noch passabel asphaltiert. Aber je höher wir kommen, desto mieser wird der Untergrund. Und wir müssen noch viel höher – bis auf 2.025 Meter! Könnte also lustig werden. Von einem Einheimischen, der uns vom Straßenrand aus zuwinkt, erhalten wir die Info: Der Goderdzi-Pass ist offen, aber oben sind knapp 30 Kilometer nicht geteert. Perfekt, denken wir uns, so kriegen wir wenigstens ein paar Offroad-Meter auf den Tacho, wenn wir schon in der Gesamtkilometerwertung unseren Spitzenplatz einbüßen.

Etwa ab der Hälfte des Weges beginnt die Straße in der Tat, brüchig zu werden. Hier war mal Asphalt, aber seit Stalins Zeiten hat sich wohl keiner mehr darum gekümmert. Weiter oben wird aus Teer Schotter, später Schlamm, schließlich Geröll. Ach was Geröll – ganze Felsbrocken liegen uns im Weg. Metertiefe Pfützen sperren direkt daneben gierig ihre Mäuler auf. Mehrmals begegnen uns Gebirgsbäche, durch die wir hindurch müssen. Dazwischen immer wieder Kühe, die uns vom Wegesrand argwöhnisch beäugen. So haben wir uns Georgien vorgestellt!

Tapfer kämpfen sich die Volvos Meter um Meter durchs Gelände, schlucken Schlagloch für Schlagloch, klettern über Hänge und stürzen sich emotionslos jede noch so steile Kuhle hinab. Wie Trommelfeuer schlagen die Steinbrocken von unten auf uns ein, immer wieder kracht und knirscht es unter uns, als brächen die Felsen direkt durch den Fußraum. Gnadenlos feindliches Terrain – ein Königreich für den Unterbodenschutz!

Die Volvos meistern alle Herausforderungen ohne Mucken. Wir müssen nicht ein einziges Mal anhalten. Als wir schließlich den Gipfel auf 2.025 Metern Höhe erreichen, werden wir vom goldenen Strahlen der Abendsonne und einem atemberaubenden Bergpanorama empfangen. Wahnsinn. Was für ein wunderschönes Land! Was für eine Weite! Und was für ein Glück, dass wir nicht nach Tiflis geballert sind!

Georgische Gastfreundschaft

Guter Dinge kämpfen wir uns durch ein verlassenes Skigebiet die letzten Kilometer nach unten und versuchen, der hereinbrechenden Dämmerung davonzufahren. Auf etwa 1.500 Meter bessert sich die Straße langsam wieder, bis sie bei Adigeni sogar für ein paar Kilometer vierspurig wird. Das kommt uns gelegen, denn auf die Weise schaffen wir mehr Kilometer in weniger Zeit und steigern so die Chancen, in Akhaltsikhe noch in den Genuss eines georgischen Abendmahls zu gelangen.

In der Stadt krallen wir uns das nächstbeste Hotel, kassieren dabei einen Strafzettel für falsches Abbiegen (dumm, wenn man sowas gegenüber der Polizeiwache macht, aber bei unter 10 Euro Strafe passt das schon) und gehen dann zu Fuß auf die Suche nach einem Restaurant.

Die Auswahl ist spärlich – scheinbar klappen sie in Akhaltsikhe schon mittags die Bordsteine hoch. Doch aus einem kleinen Café scheint noch Licht auf die Straße. Die Wirtsleute, ein junges Paar, heißen uns mit herzlichem Lächeln willkommen. Für uns der Startschuss, die gesamte Speisekarte hoch und runter zu bestellen. Kann man schon mal machen, so günstig wie das hier ist. Während es hinter den Kulissen verlockend zu brutzeln beginnt, stürzen wir uns auf den herrlichen georgischen Wein, der uns hier literweise kredenzt wird. Schmeckt ein wenig wie Moscht, ist aber sehr bekömmlich – und wirkt garantiert! Zumindest fällt es nach dem zweiten Glas spürbar leichter, den Ortsnamen „Akhaltsikhe“ richtig auszusprechen.
Glücklich und dankbar über das Erlebte heben wir die Gläser, stoßen an, genießen den Moment und sind uns ohne Worte einig: Das Land hat seine zweite Chance genutzt. Georgien rockt!

 

Tag 13 – 12. Mai 2016: Akhaltsikhe → Vardzia → Cildir Gölü (Türkei)

„Ey Mann, wo ist mein Auto?“

Fahrstrecke: 261 km
Fahrzeit: 10 Stunden (inklusive Pausen)
Grenzübergänge: 1

Der neue Morgen startet mit einem zünftigen Kater, der an den gelungenen Ausklang des vorherigen Abends erinnert. Eine erfrischende Dusche im Hotel – die erste seit drei Tagen – bringt uns aber schnell zurück ins Leben. Das ist auch gut so, denn auf dem Tagesplan für heute steht die Besichtigung einer in die Felsen gebauten Höhlenstadt im Örtchen Vardzia. Im 12. Jahrhundert als Schutzfestung gegen Osmanen und Perser errichtet, sollen Teile des Höhlendorfes, das in den Berg Eruscheti eingearbeitet ist, noch heute von orthodoxen Mönchen bewohnt sein. Das wollen wir uns näher anschauen, wenn wir schon mal in der Gegend sind!

Doch als erstes müssen wir unsere Autos finden. Der Parkplatz, auf dem wir unsere drei schwedischen Schönheiten am Abend zuvor abgestellt hatten, hat sich über Nacht in einen kleinen Markt für Gebrauchtteile verwandelt. Die Volvos stehen mittendrin, von einer Menschentraube umringt, die sichtlich interessiert unsere bunten Stahlpferde mustert. Als wir mit den Menschen ins Gespräch kommen und ihnen von unserer Reise erzählen, ist die Begeisterung wieder einmal groß. Die offenherzige Art der Georgier lässt uns schnell Vertrauen fassen. Das Angebot eines der Anwesenden, unsere „Ingeborg“ gegen einen Lada Niva einzutauschen, schlagen wir nach kurzer Bedenkzeit trotzdem aus. Stattdessen verschenken wir unsere drei alten Kennzeichenhalter, die wir in Istanbul abmontieren mussten, als Erinnerungsstücke und bitten unsere neuen georgischen Freunde zur obligatorischen Autogrammstunde. Georgische Schriftzeichen machen sich nämlich richtig gut auf der Motorhaube!

Das nächste Augenmerk gilt einem Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem wir uns mit dem Blätterteig-Käsebrot Chatshapuri und anderen landesspezifischen Köstlichkeiten eindecken. Zufällig entdecken wir dort auch eine Bank und freuen uns schon, den gestern Abend erhaltenen Strafzettel bezahlen zu können. Die Polizisten hatten sich gestern nämlich vehement geweigert, Bargeld anzunehmen. Allerdings stehen wir wider Erwarten vor verschlossener Tür – und man teilt uns mit, dass in Georgien heute alle Banken geschlossen hätten, denn heute sei Feiertag. So hoffen wir einfach, dass wir heute Abend bei der Ausreise unseren Straftäter nicht an der Grenze zurücklassen müssen und machen uns auf den Weg, weitere Schönheiten dieses geheimnisvollen Landes zu erkunden.

Auf in die Höhlenstadt!

Unsere Tour führt uns entlang eines geteerten, aber mit Schlaglöchern gespickten Weges durch malerisch grüne Täler und schlängelt sich durch die beschauliche Idylle des Kleinen Kaukasus. Solange, bis wir einen schmalen und extrem steilen Pfad passieren. Mit Anlauf zwingen wir die Volvos auf ein Plateau. Dort stellen wir die Schwedenbomber ab. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weiter. An die 200 Höhenmeter kämpfen wir uns steilen Schrittes nach oben, bis wir eine in die Felswand eingearbeitete Kapelle erreichen. Ringsherum im Fels befinden sich kleine Wohnungen, in denen tatsächlich noch Menschen wohnen. Der Fußweg erinnert an einen leichten Klettersteig und führt teilweise durch das Felsinnere. Ein mühsamer Anstieg, doch der Ausblick von oben ins Tal entschädigt für alles. Er gibt die Sicht frei auf weitere Felshöhlen – die eigentliche Höhlenstadt Vardzia am anderen Ufer des Flusses Mtkwari. Nicht einmal der zwischenzeitlich einsetzende Regen schafft es, die Schönheit der Landschaft zu schmälern. Wenige Minuten später stehen wir auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses und bewundern das steinerne Kulturdenkmal, das von Georgien für die Welterbeliste der UNESCO vorgeschlagen wurde. Völlig zu Recht, wie wir finden.
Hauptattraktion von Vardzia ist die Klosterkirche Mariä Himmelfahrt mit ihrem prächtigen Säulenportal und einem mit Fresken geschmückten Saal, der weit in den Fels hineinreicht. Von hier aus erstreckt sich der Blick über weites, scharfkantig zerfurchtes Land, das in den schillerndsten Farben zu uns hinauf leuchtet.

Bevor wir nun endgültig von Georgien Abschied nehmen und wieder in die Türkei zurückfahren, entschließen wir uns, noch einmal Essen zu gehen. Zwar sind wir alle noch gut gesättigt vom reichhaltigen Frühstück, trotzdem wollen wir unbedingt noch einmal in den Genuss der hervorragenden georgischen Küche kommen.

Am Vardzia-Resort, einem monumentalen Anwesen unweit der Höhlenstadt, werden wir auf ein Neues von der Gastfreundschaft und den landestypischen Spezialitäten überrascht. Bei hausgemachter Limonade, gegrillten Spießen und buntem Lamm-Eintopf beschließen wir endgültig, Georgien auf alle Fälle nochmal zu besuchen.

Kein Abschied für immer

Mit vollem Bauch und vollem Herzen machen wir uns schlussendlich auf den Weg Richtung Grenze, wissen allerdings noch immer nicht, wie wir mit dem offenen Strafzettel verfahren sollen. Beim Passieren der georgischen Ausreisekontrolle entscheiden wir uns deshalb für die ehrliche Variante. Wir stellen uns und fragen bei den Beamten nach, wo wir unsere Schuld tilgen können, ohne beim nächsten Einreiseversuch in Konflikt mit den Behörden zu geraten. Dieses Vorgehen scheint allerdings nicht so üblich zu sein – jedenfalls bricht der Grenzpolizist erst einmal in schallendes Gelächter aus, bevor er unserem Delinquenten einen Bankschalter direkt hinter der Passkontrolle zeigt. Die behäbige Dame am Bankschalter, die das Arbeiten definitiv nicht erfunden hat, schlägt auf die 20 Lari Strafe (etwa 8 Euro) noch eine Gebühr von 1,50 Lari drauf. Aber so viel Kleingeld haben wir gerade noch übrig, wenn wir alle zusammenlegen … Glücklich und aller Schulden entledigt, reisen wir Minuten später in die Türkei ein. Nun sind es noch knapp anderthalb Stunden, dann haben wir die heutige Etappe hinter uns.

Ein Sofa im Schnee

Doch ein überraschendes Hindernis steht uns noch bevor: Auf halber Höhe zum Ziel in Çildir, vor einem Schneehaufen, hat sich das Rallye-Organisationskomitee auf die Lauer gelegt und winkt uns von der Straße herab. Eine Sonderaufgabe wartet auf uns! Wir sollen ein Schneesofa bauen, mit 80 Zentimetern Sitzfläche, in möglichst kurzer Zeit. „Nichts leichter als das!“, denken wir uns und zimmern den Damen und Herren vom OK in zweieinhalb Minuten einen Thron in den Schnee, dass ihnen Hören und Sehen vergeht. Sonderprüfung gemeistert – mit Sternchen!

Am See Çildir Gölü, auf gut 2.000 Meter Höhe, erwartet uns schließlich eines der kältesten Nachtlager unserer bisherigen Reise. Aber dank der ins Land geschmuggelten fünf Liter Wein aus Georgien überstehen wir auch diesen Tagesabschluss bravourös und ohne bleibende Schäden.

 

Tag 14 – 13. Mai 2016: Çildir Gölü → Doğubeyazıt / Ishak-Pascha-Palast

Zwischen Armut und Moderne

Fahrstrecke: 431 km
Fahrzeit: 8 Stunden (inklusive Pausen)

Im Nordosten der Türkei zeigt sich die Armut zum ersten Mal seit Mazedonien von ihrer hässlichen Seite. Verfallende Städte, zugermüllte Wiesen und beißender Gestank trüben die herrlichen Landschaftseindrücke und zeigen mit Vehemenz auf, dass sich diese Region in weiten Teilen auf dem Stand eines Dritte-Welt-Landes befindet. Auf dem Land dominieren primitive Steinhäuser mit grasbewachsenen Dächern, an den Straßenrändern stapeln sich getrocknete Kuhfladen, die bei Bedarf als Brennmaterial genutzt werden. Über die Wiesen treiben die Hirten ihre Hammel- und Kuhherden. Autos sieht man kaum welche. Ein Leben wie im Mittelalter – wären da nicht die Sat-Schüsseln auf den Grasdächern, die den Geist moderner Zivilisation auch in diese vergessenen Winkel des Landes transportieren. Omnipräsent ist außerdem die Gas-Pipeline, die wir schon seit gestern immer wieder kreuzen. Unseren Recherchen zufolge handelt es sich dabei um die neue Transanatolische Pipeline, die ab 2018 Erdgas von Aserbaidschan nach Griechenland transportieren soll und sich aktuell noch im Bau befindet. Damit will sich Europa ein Stück weit unabhängig von den Gaslieferungen aus Russland machen.

Hinein in die Krise

Die Stadt Kars, die wir ebenfalls durchfahren, schockiert uns mit ihren Slum-ähnlichen Wohnvierteln. Kars ist eigentlich bekannt für guten Käse, doch davon ist irgendwie keine Spur zu erkennen. Stattdessen sehen wir heruntergekommene Straßenzüge und Müll an jeder Ecke. Kein guter Ort. Gut, dass wir hier nur kurz zum Tanken halten.

Im Kontrast dazu sind die Überland-Hauptstraßen bestens ausgebaut und legen sich wie graue Adern teils vierspurig über die Hügel. Da sie außerhalb der Städte kaum befahren sind, kommen wir rasch vorwärts und genießen den Ritt durch die türkische Prärie, die uns mit ihrer grenzenlosen Weite, den bunten Gesteinsformationen und ihren schneebedeckten Dreitausendern ein Staunen nach dem anderen entlockt.

Doch je weiter wir in den Osten gelangen, desto deutlicher offenbart sich auch, dass wir Kurs auf die Krisenregion nehmen: Schon seit einiger Zeit kommen uns vermehrt Panzerfahrzeuge der Armee entgegen, nun häufen sich auch die Militärposten und -stützpunkte entlang der Straße. Sie sind ein untrügliches Indiz dafür, dass wir uns den Kurdengebieten nähern. Mit Argusaugen beobachten Soldaten von provisorischen Kontrollposten aus den Verkehr, das MG im Anschlag. In Dogubayazit, unserem heutigen Tagesziel, fließen Wohnviertel und Militärquartiere nahtlos ineinander. Straßensperren und Stacheldraht, Kasernen und Radpanzer säumen das Bild. Es ist ein bedrückender Eindruck, der von dieser Drohkulisse ausgeht. Militärisch besetztes Gebiet, im Dreiländereck zwischen Armenien, der Türkei und dem Iran. Zum ersten Mal fühlen wir uns beim Durchfahren einer türkischen Stadt unwohl.

Daran ist jedoch nicht allein das Militär schuld, denn als Rallye-Teilnehmer haben wir von den Soldaten nichts zu befürchten. Im Gegenteil, wir werden sogar mit freundlichem Winken willkommen geheißen. Doch die Stadt, am Fuße des Berges Ararat gelegen, versprüht eine diffus negative Aura, irgendetwas Unheimliches, das uns instinktiv in Alarmbereitschaft versetzt.

Zu unserem Schutz

An den Straßenkreuzungen nehmen bettelnde Kinder die wartenden Autos in Beschlag, klopfen an die Scheiben, zerren an den Türgriffen. Bloß weg von hier! Allgemein scheint der Menschenschlag, dem wir in der Stadt begegnen, uns nicht ganz so wohlgesonnen, wie wir es bis dato kennengelernt haben. Sind das die Kurden? Keine Ahnung. Laut Bevölkerungsstatistik stellen sie in der Provinz Ağrı, zu der Doğubeyazıt gehört, zumindest die Mehrheit. Auf alle Fälle sind wir ziemlich froh, dass wir nicht in diesem heruntergekommenen Loch übernachten müssen, sondern ein paar Kilometer außerhalb campieren – auf einem Hügel, in leicht überhöhter Position zum prächtigen Ishak-Pascha-Palast. Aus der Ferne sieht die ganze Gegend gleich wieder viel sympathischer aus. Ein herrlicher Ausblick, auch wenn graue Wolkenschleier den Horizont bedecken. Doch die werden zunehmend löchriger. Schon Minuten später finden die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Wolken, leuchten schüchtern ins Tal hinab. Und wir haben sogar unsere eigene Leibgarde hier oben: Das türkische Militär sichert das Fahrerlager weiträumig ab, auf dem Berg wimmelt es von Soldaten. Drei von ihnen, Burhan, Mustafa und Olcay, kommen direkt auf uns zu und begrüßen uns mit freundlichem Lächeln. Burhan spricht gutes Englisch und so entwickelt sich ein lustiges Gespräch – über die Türkei, über Deutschland, über unsere Autos und die Rallye, und über die Kurden: „Es gibt hier ab und zu Ärger mit der PKK, deshalb sind wir hier, um euch zu beschützen. Aber keine Angst, Ihr könnt ruhig schlafen, wir haben die ganze Nacht Patrouillen hier oben!“ Wo wir schon waren und wo wir noch hinfahren, wollen sie von uns wissen. Wir breiten auf der Haube die Karte aus, zeigen ihnen unsere Route – und ernten euphorisches Kopfnicken als Reaktion. Begeistert zeigen uns alle drei nacheinander, wo ihre Heimatorte sind. Burhan kommt direkt vom Meer, aus Silifke: „Eine alte römische Stadt. Sehr schön dort!“ Trotzdem findet er es schade, dass die meisten Touristen die Türkei nur als Badeort kennen. Wir versprechen ihm, das zu ändern, wenn wir wieder zu Hause sind. Wir wollen jedem erzählen, dass die Türkei noch sehr viel mehr zu bieten hat als Sonne, Strand und Salzwasser.

Natürlich lassen wir unsere drei Beschützer auf unseren Motorhauben unterschreiben, bevor wir uns talwärts ins Restaurant begeben, wo wir zu Abend essen und ein paar Efes einwerfen. „In einer Stunde sind wir Zivilisten“, ruft uns Burhan noch hinterher. „Dann können wir ein Bier mit euch zusammen trinken!“

Daraus wird zwar am Ende nichts, trotzdem genießen wir, nach erfolgtem Wiederaufstieg zu unserem Schlafplatz, beim letzten Feierabend-Efes die nächtliche Aussicht auf Stadt und Palast. Traumhaft! Allerdings fällt uns auf, dass aus der Stadt fast nur statische Lichter zu uns hinauf scheinen. Autos sind so gut wie gar keine unterwegs. Oder sie fahren ohne Licht…

 

Tag 15 – 14. Mai 2016: Doğubeyazıt / Ishak-Pascha-Palast → Erzincan

Zurück nach Westen

Fahrstrecke: 749 km
Fahrzeit: 12 Stunden (inklusive Pausen)

Burhan hat gestern keinen Mist erzählt: Als wir früh am Morgen aus unseren rollenden Schlafzimmern schlüpfen, werden wir auf ein Neues mit freundlichen Worten von türkischen Soldaten begrüßt. Die Jungs haben wirklich die gesamte Nacht in voller Montur mit Panzern und auf den Bergen postierten Scharfschützen unser Fahrerlager bewacht. Auch wenn der martialische Anblick nach wie vor befremdlich auf uns wirkt: die Nacht war friedlich und der Schlaf war ruhig, im Bewusstsein, dass man aufrichtig um unsere Sicherheit bemüht ist.

Ein letztes Mal genießen wir von unserem Plateau aus den Ausblick auf den majestätischen Pascha-Palast und die darunter gelegene Stadt Doğubeyazıt, deren Armut im bitteren Kontrast zu dem prunkvoll errichteten Gebäude steht. Dann fahren wir los und sind ganz ehrlich froh, den Osten der Türkei heute hinter uns zu lassen und wieder gen Westen zu ziehen. Der Ararat, auf den wir uns eigentlich gefreut hatten, zieht es seit unserer Anwesenheit ohnehin vor, sich zeitweise ganz, zumindest aber großteils hinter dichten Wolkenschwaden zu verstecken. Das macht den Abschied nur noch leichter.

Rambo auf Türkisch

Um in der Kilometerwertung wieder aufzuholen, beschließen wir, eine längere Route zu nehmen als vorgesehen. Dass daraus am Abend 749 Kilometer werden, das wissen wir zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht. Um nicht in den schwelenden Kurdenkonflikt hineingezogen zu werden, haben wir tags zuvor Burhan in unsere Pläne einbezogen und ihn um Rat gefragt. Gemäß seiner Empfehlung, nördlich des Van-Sees zu bleiben, fahren wir oberhalb des selbigen in Richtung Zentraltürkei. Doch auch wenn wir das Zentrum der Krisenregion bestmöglich umfahren, die starke Präsenz von Polizei und Militär bekommen wir trotzdem hautnah mit. An jedem Stadteingang stehen Wachposten, die alle Autos kontrollieren, die von Osten und Süden anrollen. Normalerweise winken uns die Grenzposten freundlich durch, doch am Ortseingang von Varto werden wir tatsächlich herausgezogen. Zwei muskelbepackte Schränke stolzieren auf uns zu und zitieren uns zur Kontrolle. Der eine sieht mit seinem Strohhut und dem bis zum Nabel offenen Hemd aus wie eine Mischung aus John Rambo und Crocodile Dundee. Der andere sticht vor allem dadurch ins Auge, dass er seine Dienstwaffe locker lässig in der Hose stecken hat, anstatt wie seine Kollegen ein Halfter zu verwenden. Das Ganze ist ein wenig surreal und wir wissen nicht recht, ob wir angesichts der obskuren Gestalten direkt loslachen oder erstmal abwarten sollen, was die Herren denn von uns wollen.

Die reden gar nicht lange um den heißen Brei – was man ihnen rein optisch auch nicht zutrauen würde – sondern reißen direkt die Seitentüren unserer Autos auf, wagen einen Blick ins Wageninnere, nicken zufrieden, schließen die Türen wieder – und lassen uns ziehen. Läuft!

Totale Blockade

Mit jedem Kilometer, den wir in Richtung Westen kommen, wandelt sich das Straßenbild spürbar. Die verdreckten Flüsse der Osttürkei, die maroden Städte und die Bettler werden weniger und verschwinden schließlich ganz. Auf dem Land wandeln sich die Gras-Flachdächer in Spitzdächer aus Aluminium, die in der Mittagssonne um die Wette glitzern. Auch die Umgebung ändert ihr Antlitz und verwandelt sich chamäleonartig von Grau zu Gelb zu Rot zu Grün. Wieder einmal sind wir von der Vielfalt der türkischen Natur entzückt und lassen uns von einem türkisblau durchs Tal plätschernden Fluss gar zu einer kleinen Rast hinreißen. Alles ist super. Bis wir, etwa 150 Kilometer vor unserem Ziel, abrupt von wild gestikulierenden Dorftürken gestoppt werden. Wir verstehen nicht viel von dem, was sie in ihrem Kauderwelsch aus Türkisch und gebrochenem Englisch von sich geben, aber wir können es uns leicht zusammenreimen: Die Route ist blockiert. Wir kommen nicht durch. Es gab einen Unfall.

Das wollen wir uns natürlich näher ansehen. Neugierig spickeln wir mit den Einheimischen zusammen um die nächste Kurve – und erblicken einen gestrandeten Tieflader, der samt 40 Tonnen schwerer Baumaschine auf dem Rücken quer über der schmalen Straße festhängt. Als just in diesem Moment auch noch die Kette des Bergungsfahrzeuges, das den LKW wieder auf Kurs bringen sollte, mit einem berstenden Knall das Zeitliche segnet, sind auch wir überzeugt: Es hat keinen Sinn, hier auf ein Weiterkommen zu warten. Wir müssen umkehren. Und wir müssen damit auch gut 150 Kilometer Umweg in Kauf nehmen.

Der Sommer naht

Mehrfach ausgebremst von Schaf-, Hammel- und Kuhherden, müde, erschöpft und hungrig, erreichen wir schließlich gegen 22 Uhr unseren Zielort Erzincan. Im Stadtzentrum werfen wir uns noch ein schnelles Essen in den Hals, bevor wir schließlich das Fahrerlager ansteuern. Das befindet sich dieses Mal auf einem Campingplatz, zwischen Kartbahn und Kinderspielplätzen.

Ein paar Runden Kart zum Runterkommen lassen wir uns nicht entgehen, danach besiegeln wir den Abend bei Bier, Zigarren und allem, was der Alkoholvorrat sonst noch so hergibt. Erleichtert und froh sinken wir in die Campingstühle: Endlich ist es auch nachts warm draußen. Auf dass dies so bleiben möge…

 

Tag 16 – 15. Mai 2016: Erzincan → Düzyayla Köyü → Ürgüp

Erwarte nichts, erhoffe alles

Fahrstrecke: 566 km
Fahrzeit: 11,5 Stunden (inklusive Pausen und Dorfbesuch mit Brotzeit)

Eigentlich sind wir auf die heutige Etappe ganz und gar nicht scharf. 545 Kilometer bis nach Ürgüp in Zentralanatolien stehen im Roadbook für heute. Fast alles Fernstraße. Alternativen: Keine. Zumindest keine vertretbaren. Ein wüstes Kilometerschrubben, Highlights Fehlanzeige. Wie langweilig!

Entsprechend mühselig schälen wir uns morgens aus den Autos, zumal der Sonnenschein von gestern mal wieder den altbekannten Wolkenschleiern Platz gemacht hat. Immerhin, warm ist es nach wie vor. Aber was soll heute schon groß passieren?

Ohne Erwartung tanken wir unsere Schlitten voll, decken uns im größten Supermarkt von Erzincan mit Wasser, Käse, Brot und Oliven ein und bereiten uns mental auf einen ereignisarmen Tag vor, bei dem die mittägliche Brotzeit wohl das Highlight werden wird. Zum ersten Mal seit Batumi sind wir heute wieder mit dem Team Fehlzündung unterwegs, das nach seinem misslungenen Georgien-Abenteuer mit den verbliebenen zwei Autos wieder mit im Rennen ist. Zusammen wollen wir die heutige Strecke so schnell wie möglich hinter uns bringen.

Mahlzeit!

Ein winziges Detail haben wir dabei jedoch übersehen: Auf etwa halbem Weg sieht das Roadbook einen Stopp im Dorf Düzyayla Köyü vor. Dort sollen wir in der Grundschule die Schulranzen abgeben, die wir beim Start übergeben bekommen haben. Außerdem ist Burhan Uzum vom Rallye-OK in diesem Dorf geboren. Deshalb haben wir zusätzlich den Auftrag, in Düzyayla Köyü jemanden zu finden, der sich an Burhan erinnern kann und sollen demjenigen eine Anekdote entlocken.

Wir sind skeptisch. Nicht so sehr wegen der Burhan-Aufgabe, sondern wegen der Schule. Im Osten, wo wir ein paar Tage vorher auch eine Dorfschule angefahren haben, waren wir von einem wilden Schülermob fast überrannt worden. Das war nicht so unser Ding. Wird sich das heute wiederholen?

Wir beschließen, 100 Kilometer vor unserem Zwischenziel erst einmal Mittag zu machen. In einer Bucht am Rande der Straße – vierspurig, aber kaum befahren – bauen wir unser Tischleindeckdich auf. Während hinter uns die ganzen anderen Teams hupend vorbeipreschen, lassen wir uns den in Erzincan besorgten Proviant schmecken. Wir werden mal wieder unter den Letzten sein – passt so!

Es sind die kleinen Gesten …

Die einzige Straße nach Düzyayla Köyü fordert die Stoßdämpfer unserer Autos ordentlich heraus. Schlagloch reiht sich an Schlagloch. Ausweichen ist sinnlos, oder endet im Graben, wie ein T4-Bus des Teams „Piranha“ beweist, der sich an der Straßenkante verheddert hat und nur mit vereinter Kraft mehrerer Teams wieder auf Kurs gebracht werden kann.

Die Blöße wollen wir uns nicht geben. Also preschen wir mitten durch, auch wenn die Schläge sich im Cockpit anhören wie MG-Feuer. Nach etwa zehn Minuten erreichen wir das Dorf und nehmen direkten Kurs auf die Schule. Tatsächlich sind wir die letzten – die anderen Teams sind bereits auf dem Rückweg. Trotzdem werden wir höflich begrüßt, die Kinder, die auf dem Schulhof spielen, winken uns lächelnd zu. Alles sehr gesittet – kein Vergleich zu unserem letzten Schulbesuch. Sehr schön!

Wir erhalten eine kleine Führung durch die beiden einzigen Klassenräume. Das Schulgebäude steht seit 1984 und macht einen soliden Eindruck. 22 Schüler werden hier unterrichtet, von der ersten bis zur vierten Klasse. Den Unterricht für die Klassen 1 und 2 leitet Lehrerin Nerdim, blutjung und bildhübsch. Wir staunen. So eine hübsche Lehrerin hätten wir auch gerne gehabt … Dass die Klassen 3 und 4 von Nerdims Verlobtem unterrichtet werden, nehmen wir nur noch mit halbem Ohr wahr.

Wir geben unsere Spenden ab, verabschieden uns, und beschließen, noch eine Runde durch das Dorf zu flanieren. Schließlich sind wir die ersten Ausländer überhaupt, die hier zu Gast sind. So hat man es uns zumindest erzählt. Also müssen wir diese Pionierleistung auch gebührend auskosten!

Aber weit kommen wir nicht. Schon am dritten Haus werden wir von zwei älteren Eheleuten abgefangen. Euphorisch bitten sie uns zum Tee in ihr bescheidenes Heim, Tochter und Enkelkinder stimmen mit ein. Wir zögern keine Sekunde. Wie könnten wir eine solche Einladung abschlagen?

So finden wir uns Sekunden später am Tisch der spartanischen Wohnstube wieder. Unsere Gastgeber rotieren derweil auf Hochtouren, um es uns so gemütlich wie nur möglich zu machen. Eifrig werden Stühle hin und her gerückt, Tische verschoben und allerhand Delikatessen aufgetischt. Tee, Kekse, Brot, Oliven, Käse – dabei haben wir doch erst Mittag gegessen! Natürlich greifen wir trotzdem zu, schließlich wollen wir niemanden vor den Kopf stoßen. Außerdem beobachten alle Anwesenden neugierig und erwartungsvoll, ob es uns denn schmeckt. Was soll man da machen?

Leider spricht keiner der Gastgeber Englisch oder Deutsch, und wir bekanntlich kein Türkisch. Eine echte Konversation kommt so natürlich nicht zustande. Aber Kommunikation funktioniert auch ohne Worte. Wir sind jedenfalls geplättet von so viel Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit, mit der uns diese Menschen in ihrem Heim willkommen heißen. Hier lebt man in ganz einfachen Verhältnissen auf engstem Raum zusammen, aber ganz offensichtlich hat man dabei nicht vergessen, was Menschlichkeit bedeutet. Davon können wir uns in unseren Breiten ordentlich was abschneiden!

Spontan entschließen wir uns deshalb, uns mit deutscher Marmelade, einem Fußball und einem Erinnerungsfoto zu revanchieren. Letzteres kommt bei unseren Gastgebern so gut an, dass wir es dreimal ausdrucken müssen. Zu Tränen gerührt, verabschiedet uns schließlich die ganze Familie, und auch bei uns hinterlässt die Begegnung bleibende Spuren. Noch Stunden später fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Die geforderte Burhan-Anekdote haben wir zwar nicht mitnehmen können, eins aber ist klar: In Düzyayla Köyü werden wir in den nächsten Tagen Dorfgespräch sein…

Als wir schließlich am Abend Ürgüp erreichen, ist es natürlich schon stockdunkel – mal wieder. Da es außerdem nach Regen riecht, beziehen wir kurzerhand sechs Doppelzimmer im Hotel Tassaray und genießen dort die erste Dusche seit Georgien. Wir freuen uns auf morgen. Kappadokien wartet!

 

Tag 17 – 16. Mai 2016: Ürgüp → Degirmenkasi → Tuz Gölü

Ein Ort zum Staunen

Fahrstrecke: 240 km
Fahrzeit: 11,5 Stunden (inklusive Wandern, Reifenpanne und Pausen)

Der neue Tag beginnt perfekt. Zart kitzeln uns die Strahlen der Morgensonne aus unseren Hotelbetten. Wieder liegt eine kurze Nacht hinter uns, doch der Blick aus dem Fenster weckt sofort sämtliche Lebensgeister. Nichts wie runter ans Frühstücksbuffet – bloß keine Zeit verlieren!

Am gedeckten Tisch im Essenssaal des Hotels besprechen wir die Tagesplanung. Heute steht ausnahmsweise nicht das Autofahren im Vordergrund. Schließlich sind wir im Herzen von Kappadokien, der landschaftlich wohl spektakulärsten Region der Türkei. Die müssen wir einfach zu Fuß erkunden! Also satteln wir die Pferde, fahren ein Stück und finden uns Minuten später an einem Aussichtspunkt wieder, der die Sicht freigibt auf eine fast surreale Felsenwelt, die uns schlicht sprachlos macht. In den letzten Tagen haben wir wirklich schon viel gesehen, aber das hier ist nochmal eine ganz andere Liga. Vor uns breiten sich die skurrilsten Felsformationen aus, die man sich nur vorstellen kann. Von weich gerundeten Hügeln über spitze Pyramiden bis hin zu gigantischen „Steinpenissen“ ist alles dabei. Der Wahnsinn! Kaum vorstellbar, dass das hier alles natürlichen Ursprungs ist. Was Wasser, Wind und der Zahn der Zeit doch für krasse Bilder ins Gestein zaubern können.

Voller Euphorie stürzen wir uns hinab in die schmalen Wanderwege, die sich wie kleine Äderchen kreuz und quer durch die Felsen ziehen. Ein Wunder jagt das nächste. Wir können uns gar nicht satt sehen. Manche der Felsen scheinen gar bewohnt zu sein. Inmitten des kuriosen Tals entdecken wir Ackerflächen, auf denen Granatäpfel, Tee und Orangen gedeihen. Allesamt Produkte, die oben am Aussichtspunkt im Freiluftcafé von „Crazy Ali“ verkostet werden können. Da lassen wir uns natürlich nicht zweimal bitten, werfen uns auf die gen Tal aufgestellten Sofas und lassen bei türkischem Tee und frischem Obst das Szenario in vollen Zügen auf uns wirken.

Nur mühsam können wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass wir heute ja noch weiter müssen. Doch der Blick auf die Uhr reißt uns aus allen Träumen. Die Sonne hat den Zenit längst überschritten, es ist höchste Zeit, aufzubrechen.

Von Schweizern und Franzosen

Natürlich legen wir die Route zum nächsten Ziel aber so, wie wir es immer machen: Um auch vom Auto aus möglichst viel zu entdecken, verlassen wir bei der erstbesten Gelegenheit die öde Schnellstraße und finden uns schon bald in tiefster Prärie wieder. Doch allzu weit kommen wir nicht: Mit einem donnernden Knall verabschiedet sich mitten im Dörfchen Degirmenkasi „Lilas“ Hinterreifen. Das letzte Schlagloch war eines zu viel. Schwarze Fetzen hängen lose von der Felge, dort, wo einmal ein stolzer Pneu den Radkasten zierte. Da hilft kein Flickzeug mehr. Wir brauchen Ersatz!

Das ist an sich kein Problem, wir haben ja genug Reserveräder im Gepäck und der Radwechsel ist im Nu vollzogen. Das Treiben hat jedoch die Dorfbewohner auf uns aufmerksam gemacht, die sich nun neugierig um unseren Tross tummeln. Natürlich haben sie mitbekommen was passiert ist und bieten, mit wilden Gesten auf den kaputten Reifen deutend, ihre Hilfe an. Die lehnen wir freundlich ab – aber dafür fällt uns was anderes ein: Wir haben für heute ja noch die Tagesaufgabe: uns im achten Ort, den wir durchfahren, nach dem ältesten Bewohner zu erkundigen. Also ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopfe, erklären Degirmenkasi eigenmächtig zu besagtem achten Ort und versuchen, mit einem Bauer älteren Semesters ins Gespräch zu kommen. Der spricht zwar – natürlich – kein Deutsch und auch kein Englisch, beteuert aber mit leuchtenden Augen, dass er „francais“ könne. Aha. Französisch also. Gemeinsam versuchen wir daraufhin, die letzten übrig gebliebenen Brocken unseres Schulfranzösisch in unseren Hirnen aufzustöbern, die eine Konversation ermöglichen könnten. Der Erfolg ist begrenzt, denn weder er noch wir beherrschen die Sprache wirklich. So kommen wir nicht weiter. Aber die Türken sind ja ein findiges Völklein, und so winkt der Bauer kurzerhand einen weiteren Dörfler, der gerade mit dem Auto an uns vorbeifahren will, zu uns heran. Der steigt, nach kurzem Wortwechsel mit unserem Turko-Franzosen, aus seinem klapprigen Wagen und streckt uns mit einem fröhlichen „Grüezi miteinand!“ die Hand zur Begrüßung entgegen. Wie bitte? Jetzt auch noch ein „Schwiizer Türke“? Mitten in der tiefsten türkischen Provinz, in einem 100-Seelen-Kuhkaff? Sachen gibt’s…

Leider aber reichen auch die Sprachkenntnisse des „Schweizers“ nicht wirklich aus, um dem Kern unseres Anliegens auf die Spur zu kommen. Allerdings sind wir ja nicht erst seit gestern in der Türkei und haben schon einiges gelernt. Wenn die Türken eine Sache richtig gut können, dann ist das Improvisieren. Und das machen wir jetzt auch: Kurzerhand küren wir den fröhlichen Schweizer zu unserem persönlichen Dorfältesten, fragen ihn nach seinem Namen und bitten ihn um ein Gruppenfoto. Der Plan geht auf – für Fotos sind sie sich in der Türkei nämlich nie zu schade. Alle sind glücklich, wir verabschieden uns herzlich voneinander und setzen, begleitet vom frenetischen Winken der versammelten Dorfmeute, unsere Fahrt fort.

Schweinefleisch am Salzsee

Unterwegs bestaunen wir aus dem Cockpit heraus den Sonnenuntergang, hoppeln über Feldwege, winken den Schafhirten zu und genießen den Blick aufs weite Land, das sich vor uns erstreckt. Natürlich ist es wieder einmal Nacht, als wir das Fahrerlager erreichen. Wir übernachten direkt am Ufer des Salzsees Tuz Gölü, dessen weiß schimmernde Umrisse im fahlen Mondlicht besonders geheimnisvoll wirken. An diesem Abend kredenzt uns Koch Lars frisches Sahnegeschnetzeltes aus der Dose, das wir von unserem Sponsor, der Metzgerei Zeeb, als Proviant mitbekommen haben. Mit lauwarmem Efes bringen wir uns auf Schlaftemperatur und fragen uns gespannt, wie der Salzsee wohl bei Tag aussehen mag.

 

Tag 18 – 17. Mai 2016: Tuz Gölü → Dinar → Uşak

Der Salzsee fällt ins Wasser

Fahrstrecke: 694 km
Fahrzeit: 14 Stunden (inklusive Salzsee-Sonderprüfung und Pausen)

Wir sind enttäuscht. Eigentlich hätte der Salzsee eines der Highlights werden sollen. Eigentlich hatte es geheißen, wir könnten auf den See drauf fahren und die Sau rauslassen. Eigentlich wäre das auch kein Problem gewesen – wenn die Rallye im Juli oder August stattgefunden hätte. Dann wäre der See trocken und befahrbar gewesen. Ist er aber nicht. Wir haben nämlich Mai und der See steht unter Wasser. Mist verdammter! Unsere Volvos können ja viel, doch Schwimmen gehört leider nicht dazu. Deswegen wird aus dem verheißenen Salzrennen nichts. Dabei hatten wir uns so sehr drauf gefreut…

Das Rallye-OK hat sich jedoch einen Plan B ausgedacht. Wenn wir schon nicht auf dem Salzsee fahren dürfen, dann doch wenigsten auf den Dämmen, die sich labyrinthartig aus dem Wasser erheben. Highspeed fällt natürlich aus – zu gefährlich. Stattdessen sollen wir mit konstant 40 km/h eine bestimmte Strecke abfahren, auf halbem Weg aussteigen, 777 Gramm Salz aus dem See schöpfen und damit zurück ins Ziel eiern. Ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, was wir eigentlich vorhatten, aber besser als nichts. Guter Dinge reihen wir uns in die Startschlange ein. Auf Kommando düsen wir los. Schnell stellen wir fest: Es ist gar nicht so einfach, die 40 km/h zu halten. Von jedem unserer drei Tachos erhalten wir andere Informationen. Und 40 ist halt auch wirklich, wirklich langsam…

Die Sache mit dem Salz versemmeln wir kapital: Statt der geforderten 777 Gramm haben wir nur 580 Gramm zusammengekratzt. Das behauptet zumindest die Waage im Ziel. Und die ist glaubwürdiger als Lars‘ Schätzeisen. Zumindest sieht das das OK so. Dem müssen wir uns wohl oder übel beugen. Wir werden damit leben können.

Da uns bis zum Tagesziel Uşak ein langer Weg ins Haus steht, fahren wir nach dem Salz-Dilemma sofort ab. Vor der Abreise konfisziert das OK allerdings noch unser Roadbook. Das müssen alle Teams nämlich heute zwecks Auswertung abgeben. Bis um Mitternacht haben unsere Roadbook-Beauftragten gestern Abend noch an dem Ding gearbeitet, Fotos eingeklebt, Antworten nachgetragen und Korrektur gelesen. Jetzt ist das OK an der Reihe – mal schauen, was am Ende rauskommt!

Per Kompass zum Badesee

Vom Salzsee bis nach Uşak sind es gut 540 Kilometer. Wir packen jedoch noch einmal 150 Kilometer drauf, weil wir einen Süd-Schlenker über Dinar machen wollen, um die Fernstraße zu meiden. Außerdem legen wir die Route so, dass wir gegen 15 Uhr einen See erreichen, an dem wir – sofern möglich – einen Badestopp einlegen möchten. Der See ist allerdings nur über Neben-Nebenstraßen erreichbar. Und die sind in unserer Karte – Maßstab 1:800.000 – derart ungenau, dass es einem Glücksspiel gleichkommt, auf Anhieb die richtigen zu finden. Wir fahren deshalb nach Kompass – und erreichen tatsächlich fast plangemäß das Seeufer.

Kaum angekommen, werden wir von zwei Einheimischen begrüßt, die mit dem Auto vorbeikommen. Nachdem die ersten Missverständnisse ausgeräumt sind – aus unerklärlichen Gründen halten die zwei uns für Holländer – drückt einer der beiden uns eine Handvoll Erik in die Hand, die er scheinbar zufällig im Auto spazieren fährt. Erik sind Kirschpflaumen, die unreif verzehrt werden und genauso schmecken: sauer! Die Türken scheinen sie zu lieben, es gibt die Dinger an jeder Ecke zu kaufen. Unser Ding ist es nicht, aber aus Höflichkeit, und weil wir Hunger haben, stürzen wir uns trotzdem auf die grünen Früchtchen. Sehr zur Freude der beiden Türken, die natürlich erst wieder weiterfahren, nachdem wir ihnen erzählt haben, was um alles in der Welt uns hierher verschlagen hat.

Abendessen mit Hindernissen

Das Highlight des Tages steht uns aber erst noch bevor. Gegen 20 Uhr erreichen wir Dinar, eine Kleinstadt mit etwa 30.000 Einwohnern. Hier wollen wir unseren darbenden Zuckerspiegel in Form eines Abendessens auf Vordermann bringen und steuern eine Gartenwirtschaft in Zentrumsnähe an.

Die Wirtsleute, zwei junge Burschen, begrüßen uns höflich, sind aber mit der Aufgabe, zwölf Ausländer auf einen Streich zu bedienen, dermaßen überfordert, dass sie sich erst einmal zur Beratung zurückziehen. Das Entsetzen steht ihnen ins Gesicht geschrieben: Wie sollen sie das bloß hinbekommen?

Ein Glück, dass es Mehmet gibt! Der taucht, mit den beiden Kellnern im Schlepptau, nach etwa zehn Minuten an unserem Tisch auf. Mehmet ist Ende 20, in Australien geboren und offensichtlich eine Art Geheimwaffe für den Fall, dass sich Ausländer nach Dinar verirren. In der Türkei, verrät er uns, lebt er erst seit gut fünf Jahren. „Ich habe eure Autos letzte Woche schon in Ankara gesehen“, lacht er. „Da war ich auf Fortbildung.“ Natürlich will auch er wissen, was genau es mit der Rallye auf sich hat, und bereitwillig erzählen wir einmal mehr aufs Neue unsere Geschichte. Beiläufig erfahren wir außerdem, dass der Laden, auf dessen Terrasse wir gelandet sind, eigentlich gar kein Essen anbietet. Aber natürlich wäre das gar kein Problem, versichert uns Mehmet, und teilt ein paar Speisekarten aus. „Sucht euch einfach was raus, wir bestellen das dann bei einem Restaurant ein paar Straßen weiter und bringen es euch hier her“. Keine Frage, von Dienstleistung versteht Mehmet was.

Dein Freund und Helfer

Währenddessen erwacht die Straße vor dem Lokal zum Leben. Die halbe Stadt, so scheint es, hat sich am Straßenrand zusammengerottet und nimmt neugierig unsere Autos in Augenschein. Auch zwei Polizeistreifen fahren vor. Einen kurzen Moment schrecken wir auf, schließlich haben wir – mangels Platz – nicht unbedingt verkehrsgerecht geparkt. Halb in der Kreuzung, um genau zu sein. Aber wir sind ja nicht in Deutschland, sondern in der Türkei. Hier laufen die Dinge etwas anders. Deshalb liegt es den Polizeibeamten auch fern, uns wegen Behinderung des Verkehrs in die Parade zu fahren. Stattdessen stellen sie sich kurzerhand auf die Kreuzung und leiten den Verkehr einfach um unsere Autos herum. Sagenhaft! Die Polizei als Freund und Helfer. Man stelle sich die gleiche Situation mal in Deutschland vor…

Sowohl Mehmet als auch die Polizisten lassen uns jedoch erst von dannen ziehen, nachdem sie sich auf unseren Motorhauben verewigt und uns detailgenau den weiteren Weg nach Uşak erklärt haben. Jeder will ein Foto mit uns, alle wollen uns die Hände schütteln. Wir sind die absoluten Superstars – mal wieder. Standesgemäß verabschieden wir uns schließlich unter tosendem Hupen von unseren neuen Fans. Die winken und jubeln, freuen sich, dass wir sie mit unserem Besuch beehrt haben. Zehn Minuten später haben wir fünf neue Fans auf Facebook. So muss das laufen!

In Uşak stellen wir anderthalb Stunden später unsere Boliden im Stadtpark ab. Das Fahrerlager platzt wie immer aus allen Nähten. Kein Platz mehr für uns. Stört uns nicht. So können wir in der gegenüberliegenden Bar genüsslich Shisha quarzen und uns dann gegen 2 zufrieden in die Kojen hauen. Ein Hauch von Melancholie überkommt uns: Langsam aber unaufhaltsam geht es auf den Endspurt zu…

 

Tag 19 – 18. Mai 2016: Usak → Ulubey Canyon → Denizli → Alaşehir

Mitten im Stadtpark

Fahrstrecke: 408 km
Fahrzeit: 11 Stunden (inklusive Rum(M)eiern im Canyon, Baden und Pausen)

Prüfend geht der Blick am nächsten Morgen hinaus durchs Fenster. Die Sonne ist uns hold geblieben. Guter Dinge öffnen wir die Seitentüren unserer Volvos, winden uns mit einer gekonnten 180-Grad-Drehung nach draußen – und finden uns inmitten Dutzender Jogger und Passanten wieder. Na toll. So viel Betrieb war hier gestern Abend aber noch nicht! Nach kurzem Umschauen ist klar: der morgendliche Freiluft-Toilettengang fällt heute erst mal aus. Im selben Moment schlüpfen die Fehlzünder aus ihren Mercedes-Kombis, und wir überlegen uns, was die Menschen, die jetzt gerade an uns vorbeilaufen, wohl bei unserem Anblick denken mögen. Zwölf zerknitterte Gestalten, die morgens, mitten im Stadtzentrum, aus sechs alten Autos purzeln. Gibt es sicher nicht jeden Tag…

Da die Türken von Haus aus neugierig sind, dauert es auch nicht lange, bis die ersten uns ansprechen. „Guten Morgen, willkommen in meiner Heimatstadt“ dringt es plötzlich in vertrauter Sprache an unsere Ohren. Etwas verdutzt heben wir die Köpfe und sehen einen älteren Herrn, der mit seiner Frau vor unseren Autos stehen geblieben ist. Wieder einmal überrascht uns die türkische Offenherzigkeit, mit der wir in dieser Situation eher nicht gerechnet hatten. In astreinem Deutsch erzählt uns der Mann, dass er 46 Jahre in Bochum gelebt habe und seit ein paar Jahren wieder hier sei, um seinen Ruhestand zu genießen. Ihre Tochter, so erzählen uns die Eheleute, lebe noch in Deutschland, komme aber oft zu ihnen zu Besuch. Die beiden wünschen uns einen schönen Tag, ziehen von dannen und wir machen uns in einer nahegelegenen Toilette tageslichttauglich. Um 9 Uhr soll es nämlich vom Fahrerlager aus im Konvoi aus der Stadt gehen. Das Ziel: der Ulubey Canyon, angeblich der zweitgrößte Canyon der Welt. Hier wollen wir heute die Gelegenheit nutzen, um ein paar Fahraufnahmen zu schießen und es ein bisschen krachen zu lassen.

Wo zur Hölle ist der Eingang?

Zwar sind wir pünktlich um 9 vor Ort und es geht auch fast pünktlich los. Aber natürlich reißt der Konvoi schon nach wenigen Metern auseinander und wir sind mal wieder auf uns alleine gestellt. Doch wo zur Hölle geht es in diesen verdammten Canyon, der normalerweise für den Verkehr gesperrt sein soll? Ein Blick in den GPS-Tracker beweist uns, dass die anderen Teams vor genau derselben Frage stehen. Die bunten Linien, die dort eingezeichnet sind, sehen aus wie Spaghetti, aber nicht wie ein geordneter Konvoi. Jedes Team scheint einen anderen Weg in die Schlucht gesucht zu haben. Deshalb folgen wir einfach der Beschilderung zum Aussichtspunkt, um von dort aus nach unten zu gelangen. Vorher gönnen wir uns – bei beeindruckendem Blick in den Schlund des Canyons – allerdings noch ein Gläschen Tee.

Derart gestärkt folgen wir einem kleinen Schotterweg, der serpentinenartig in die Schlucht, aber auf der anderen Seite ebenso schnell wieder hinaus führt. Das kann schonmal nicht der richtige Weg sein. Also probieren wir es auf ein Neues, nehmen im Tal eine Abzweigung – und stehen nach einigen Hundert Metern plötzlich vor einem Wohnhaus, mitten im Canyon. Wieder nichts… Einen anderen Weg können wir allerdings nicht entdecken, deshalb entschließen wir uns, das bisher erkundete Gebiet zu unserem Spielplatz zu erklären und ein wenig hin und her zu ballern. Verkehr gibt es hier unten eh keinen, und wenn, dann soll er unsere Staubwolken schlucken!

Ein paar Minuten geht alles glatt. Wie vom Hafer gestochen peitschen wir die Volvos durch die Schlucht, pflügen uns durchs Geröll, kommen den Felswänden immer wieder bedrohlich nahe. Ein Ritt auf der Rasierklinge, ganz besonders für die Reifen.

Zwei Reifen in zwei Minuten

Die Quittung dafür folgt auf dem Fuße: „Panne!“ schallt es plötzlich aus dem Funkgerät. Meier, der im Canyon mit „Lila“ die Führung übernommen hat, bleibt mit einem Mal rechts am Wegesrand stehen. Der rechte Vorderreifen des 850 hat einen Felsen geküsst und diese Begegnung mit einem klaffenden Loch an der Flanke bezahlt. Kann passieren, und ist nicht weiter schlimm: Wir haben ja noch drei Reserveräder. Innerhalb von wenigen Minuten ist das Rad getauscht und wir rollen weiter.

Doch weit kommen wir nicht, denn Meier hat heute offenbar das ganz große Los gezogen: Keine 200 Meter hält der Reifen. Dann schiebt Meier den Volvo mit beeindruckender Präzision gegen einen herausstehenden Felsen, der „Lilas“ Stahlfelge iin Sekundenschnelle zum modernen Kunstwerk kaltverformt. Alles klar – langsam wird es dünner, was die Ersatzradvorräte angeht. Wer hätte auch ahnen können, dass es jemand fertig bringt, zwei Räder innerhalb von zwei Minuten zu zerstören?

Wieder stehen wir, wieder wird hastig gewechselt. Dieses Mal auch innerhalb des Cockpits: Meier nimmt ab sofort kleinlaut auf dem Beifahrersitz Platz, während Marcel das Steuer von „Lila“ übernimmt. So kommen wir ohne weitere Blessuren aus dem Canyon heraus und wollen anschließend etwa 100 Kilometer weiter nach Südwesten. In der Nähe von Denizli soll es eine Salzterrasse geben, die wir uns näher anschauen möchten. Problem: Das Dorf, in dem wir rausgekommen sind, gibt es in unserer Karte nicht. Dementsprechend wissen wir nicht so recht, wo wir sind, geschweige denn, wie wir von dort zurück auf die Schnellstraße gelangen. Doch zum Glück haben die Türken für jedes Problem eine Lösung parat. Der Bauer, den wir im Dorf nach dem Weg fragen, fackelt jedenfalls nicht lang. Keine Karte? Kein Problem! Zeichnen wir uns eben selbst eine. Schnurstracks kritzelt uns der Mann ein Schema der Umgebung aufs Papier, kommentiert lautstark, malt dicke Pfeile nach links und ein großes „Nein!“ rechts daneben. Alles klar, an dieser Kreuzung müssen wir uns also links halten … Zur Sicherheit fährt der Bauer mit seinem Traktor ein paar Hundert Meter voraus, dann richten wir uns nach seiner Straßenkarte – und finden uns wenig später tatsächlich auf der Schnellstraße nach Denizli wieder.

Waschtag!

Die dortigen Salzterrassen stellen sich nach kurzem Zungen-Geschmackstest als geschmacklose Kalkformationen heraus. Prima, das hätten wir auch vorher ergoogeln können. Die Kalkhaufen sehen zwar optisch ganz interessant wirken, reißen uns aber ansonsten nicht vom Hocker. Unsere Aufmerksamkeit gilt eher dem kleinen Schwimmbad gegenüber, das wir kurzerhand entern, um die zentimeterdicke Staubschicht aus dem Canyon von unseren Körpern zu waschen. Sogar eine kleine Rutsche hat es hier. Jippie! So plantschen, rutschen und blödeln wir einige Zeit herum, gehen dann Abendessen und machen uns schließlich auf den Weg zu unserem Tagesziel Alaşehir. Wenige Kilometer vor der Ankunft beschließen wir, noch einen finalen Tankstopp einzulegen, um mit vollen Tanks auch die letzte Etappe der Rallye in Angriff nehmen zu können. Eine verhängnisvolle Entscheidung. Zumindest für mich. Doch das kann zu diesem Zeitpunkt ja keiner ahnen …

 

Tag 20 – 19. Mai 2016: Alaşehir → Sarigöl → Dalyan

Ein herber Verlust

Fahrstrecke: 398 km
Fahrzeit: 12,5 Stunden

Mein Handy ist weg. Unauffindbar. Verschwunden. Einfach weg. Seit einer guten Stunde suche ich das Teil nun schon im und ums Auto. Seit ich heute Morgen gemerkt habe, dass es fehlt. Aber keine Spur. Nichts. Nirgends. Verdammter Mist!

Es gibt nur eine Möglichkeit: Irgendwo zwischen Denizli und Alaşehir muss ich das Ding gestern Abend verloren haben. Jedenfalls bleibt es auch nach ausgiebiger Kollektiv-Suche des ganzen Teams unauffindbar. Das „Volvo-Bermudadreieck“ vorne zwischen den Sitzen hat zwar schon so manches verschluckt auf unserer Reise, aber auch dort ist von einem Handy keine Spur. Die Rekonstruktion des letzten Abends bringt die Erkenntnis: Wenn, dann kann das Telefon nur während des Tankstopps kurz vor dem Ziel aus dem Auto gefallen sein – nur dort habe ich das Auto kurz zum Pinkeln verlassen. Blöd jetzt: Alle Nummern, alle Bilder, sämtliche gespeicherte Erinnerungen – alles weg. Da verstehen ausnahmsweise auch die anderen meine miese Laune.

Aber was soll man machen? Die Show muss weitergehen. Und sie geht weiter! Heute steht uns die letzte Etappe bevor. Heute Abend werden wir am Zielort der Rallye ankommen, dem Touristen-Städtchen Dalyan am Rande des Mittelmeers. Pünktlich um 9 ist der Start geplant. Deshalb packen wir zusammen – auch jetzt taucht das Handy nicht auf – und starten in Konvoi-Aufstellung. Wir sind skeptisch. Bisher waren die geplanten Konvois ja ein einziges Chaos. Doch dieses Mal scheint die ganze Sache wirklich zu klappen. An jeder kritischen Stelle in der Stadt stehen eifrig herumwirbelnde Polizisten und winken den kompletten Tross – über 150 Autos – durch die verwinkelten Straßen von Alaşehir. Die Szenerie ist gigantisch. Es hupt und jodelt aus allen Ecken. Überall hängen Fahnen. Am Straßenrand und aus den Fenstern der Wohnhäuser winken Menschen, machen Fotos, jubeln uns zu. Von allen Seiten werden wir freudig begrüßt. Wieder mal sind wir die Stars – das ist nicht zu übersehen.

Unverwundbare Volvos, verletzte Mercedes

Erstes Zwischenziel hinter der Stadtgrenze ist eine Offroad-Strecke. Die wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Zwar entpuppt sich die Route zunächst als feuchter Abklatsch dessen, was wir bisher schon so durchfahren sind, doch ein großes Highlight hält der Weg tatsächlich bereit: Schmale Schotterpisten und einige enge Kurven führen uns zu einem Fluss, der im rechten Winkel unsere Straße kreuzt. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir da drüber.

Für uns ist das alles kein Problem. Im Gegenteil. Wir haben in den letzten Wochen derart viel Vertrauen in unsere schwedischen Schlachtrösser gefasst, dass wir da keine Bedenken haben. Manch anderes Team scheint sich schwerer zu tun. Viel schwerer! Anders lässt es sich kaum erklären, dass viele Fahrer vor uns ihre Autos nur höchst zaghaft über die feuchte Problemstelle bewegen. Einigen ist bereits der Anblick des Flusses zu viel – sie drehen um und versuchen, den gesamten Offroad-Teil auf asphaltierten Strecken zu umfahren.

Darüber können wir nur müde lachen. Belustigt verfolgen wir das Treiben, das sich vor uns abzeichnet und warten geduldig, bis wir an der Reihe sind. Dann geht es endlich los: Angeführt von „Ingeborg“ schießt ein Volvo nach dem anderen durch das kniehohe Wasser. Die Boliden tauchen tief ins kühle Nass, fauchen und keuchen wie wütende Drachen. Aus den Motorhauben quillt der Dampf verdunstenden Flusswassers, meterhoch sprühen die Fontänen. Stück für Stück kämpfen sich die Vorderräder durch das steinige Flussbett. Sekunden später stehen alle drei Volvos tropfend aber unbeschadet am rettenden Ufer. Ein kurzer Huster von „Sascha“, der offenbar einen Schluck Wasser zu viel erwischt hat, ist der einzig erwähnenswerte Zwischenfall. Einmal mehr haben unsere treuen Begleiter das Vertrauen, das wir in sie gesetzt haben, nicht enttäuscht. Tolle Autos haben wir da!

Hinter uns versuchen unsere Freunde vom Team Fehlzündung, mit ihren Mercedes E-Klassen unserem Beispiel zu folgen. Das sieht spektakulär aus, hat jedoch weitreichende Konsequenzen für die betagten Stuttgarter Edel-Kombis: Ein Wagen säuft ab und bekommt einen heftigen Schlag in den Kühler, der zweite reißt sich im Flussbett die Getriebeabdeckung auf und ziert das andere Ufer mit einer schmierig-schwarzen Ölspur. Die Problemzonen des ersten Benz sind schnell beseitigt: Wasser raus aus dem Luftfilterkasten, verbogenen Kühlerträger mittels Abschleppseil und Volvo-Power wieder gerade gezogen. Für das sensible Automatikgetriebe der E-Klasse sieht unser Chefmechaniker Lars jedoch Schwarz: Eine Weiterfahrt könnte tödliche Folgen haben. Die Konsequenz: Karre abschleppen bis in die nächste Stadt, dort eine Werkstatt suchen und das Leck flicken.

Auf zum letzten Gefecht

Die Werkstatt finden wir im zehn Kilometer entfernten Sarigöl, das zugleich Zielort der Offroad-Strecke ist. So kommt es, dass auch hier eine applaudierende Menschenmenge auf uns wartet, die begeistert und voller Freude die vielen bunten Autos beäugt. Offizielle Mitarbeiter der Stadt heißen uns mit einer kleinen Erfrischung und einem Präsent – einem Bild von Kemal Atatürk – willkommen. Bei türkischem Tee, Sonnenschein und köstlichem türkischen Essen im Restaurant „Paşa“ warten wir gemeinsam mit den „Zündis“ auf die Reparatur des Mercedes. Die ist nach zwei Stunden erfolgreich abgeschlossen und kostet umgerechnet rund 30 Euro. Ein Schnäppchen!

Zurück auf der Straße versuchen wir jetzt, den kürzest möglichen Weg zu unserem Endziel Dalyan zu fahren. Der ungeplant lange Aufenthalt in Sarigöl hat uns schließlich ordentlich Zeit gekostet, die wir irgendwie wieder reinholen sollten.

Das Getriebe sagt Tschüss

Die ersten 50 Kilometer gelingt uns das ohne weitere Probleme. Doch plötzlich erreicht uns über Funk eine Durchsage aus dem Fehlzünder-Cockpit, die uns zum Anhalten zwingt. Das empfindliche Getriebe der E-Klasse hat die Tortur der letzten Stunden offenbar nicht vertragen. Nach einem lauten Knall im Fahrzeuginneren ist nur noch ein Hochschalten bis in den zweiten Gang möglich.

Da auch ein Neustart des Steuergeräts keine Besserung bringt, bleibt uns nichts anderes übrig, als die verbleibenden 250 Kilometer bis ins Ziel mit maximal 90 km/h runterzuleiern – mit einem schmerzerfüllt kreischenden Benz im Schlepptau, der sich mit 5.500 Umdrehungen über die Schnellstraße quält. Doch trotz alledem ist die Stimmung gelöst und ausgelassen. Übermütig liefern wir uns spaßige Überholduelle, hüpfen wie junge Kaninchen zwischen den Spuren hin und her, hupen, winken den anderen Verkehrsteilnehmern zu und genießen die Fahrt in den Sonnenuntergang. Schon seit Kappadokien sind wir in vergleichsweise reichen, gut ausgebauten Touristenregionen unterwegs, die sich sehr deutlich vom Ostteil der Türkei abheben. Mit jedem Kilometer Richtung Süden verstärkt sich dieser Eindruck weiter – und auch die immer mediterraner dreinblickende Natur verrät es uns: Wir nehmen direkten Kurs aufs Mittelmeer.

Als wir abends gegen 22 Uhr Dalyan erreichen, wimmelt es auf den Straßen nur so von Touristen. Musik und Gelächter dringt an unsere Ohren, es blinkt und glitzert allerorten. So lernen wohl die meisten ausländischen Gäste die Türkei kennen. Hier soll morgen Abend die offizielle Siegerehrung steigen. Davor jedoch gehen wir ein letztes Mal auf Tour: Morgen Früh fahren wir ins benachbarte Dalaman, um dort in einer Plantage Orangen zu pflücken.

 

Tag 21 – 20. Mai 2016: Dalyan → Dalaman → Dalyan

Der letzte Akt

Fahrstrecke: 72 km

Drei Wochen lang haben wir seine Existenz verleugnet. Doch es hat nichts genutzt. Er hat uns eingeholt: Der letzte Tag der Allgäu-Orient-Rallye 2016 ist angebrochen.

Eine fast wehmütige Stille liegt an diesem Morgen über dem Fahrerlager. Der Blick in die Gesichter verrät: Das Ende kommt zu früh. Von uns aus hätte es gern noch ein paar Wochen so weitergehen können. Ums Vorankommen müssten wir uns keine Sorgen machen. Unsere Volvos haben vom ersten bis zum letzten Tag alle Erwartungen übertroffen. Ein defektes Abblendlicht, ein leckender Kühler-Ausgleichsbehälter und – ganz besonders tragisch – ein kaputtes Handschuhfachlämpchen sind die einzigen Mängel, die es zu dokumentieren gibt. Ansonsten wären die Wagen locker noch mal für die gleiche Distanz bereit. Und das, obwohl wir sie ganz bestimmt nicht geschont haben.

Aber es hilft nichts – sentimental werden können wir am Abend immer noch. Jetzt müssen wir uns nämlich erst einmal startbereit machen: Um 9 Uhr geht es auf zur letzten Fahrt. Wir rollen in Kolonne nach Dalaman, wo wir auf einer Plantage Orangen pflücken sollen. Die Route führt uns über hügeliges Hinterland an idyllischen Mittelmeerbuchten entlang bis in einen Vorort von Dalaman. Olivenhaine, Zitronen- und Orangenplantagen säumen links und rechts die Wege. An einer der Orangenplantagen erwartet uns das Rallye-OK. Unsere letzte Aufgabe: Innerhalb von fünf Minuten sollen wir so viele Orangen von den Bäumen holen wie möglich.

Bevor es ans Pflücken geht, kassiert das OK jedoch noch unseren GPS-Tracker ein. Schweren Herzens schalten wir das Gerät ab und händigen es aus. Die türkisfarbene Linie mit der 34 endet auf diese Weise irgendwo in einem Feldweg in der Nähe von Dalaman, im Schatten dicht behangener Orangenbäume. Zugegeben, es gibt ruhmvollere Arten abzutreten, aber was soll man machen…

Die Orangenaufgabe erledigen wir eher halbherzig. Eigentlich sind wir mehr mit Orangenessen beschäftigt als mit Orangensammeln. Nach Ablauf der Zeit kommen trotzdem 184 Stück zusammen. Wir sind ein wenig perplex, als wir erfahren, dass wir diese 184 Orangen nun mitnehmen sollen und nicht etwa, wie wir es gedacht hatten, dem Bauer übergeben, dem die Plantage gehört. Was zur Hölle sollen wir mit fast 200 Orangen?

Wer kriegt das Kamel?

Immerhin haben wir nun etwas Zeit, uns für diese Frage eine passende Antwort zu überlegen. Denn bis zum Abend haben wir heute frei. Das nutzen wir, um in einer kleinen Bucht zwischen Dalyan und Dalaman ins gar nicht mal so warme Mittelmeer zu hüpfen, ein wenig Sonne zu tanken und zu entspannen. Später buchen wir uns in Dalyan im Hotel BC Spa ein, gehen dort Abendessen und machen uns frisch – um 20 Uhr findet auf dem Hauptplatz des Ortes die Siegerehrung statt. Auch das Kamel ist bereits in Dalyan eingetroffen und steht etwas orientierungslos in Sichtweite zu unserem Hotel an der Straße. Wer es am Ende wohl nach Hause reiten darf?

Zwei Stunden später wissen wir mehr: Der Sieg – und damit das Kamel – geht in diesem Jahr an das Team „No Camel no Cry“ aus der Schweiz. Zweiter wird das „Miller’s Racing Team“ aus Norddeutschland, gefolgt vom ebenfalls aus dem Norden stammenden Team „Südhei.de“. Wir landen – wie wir fast erwartet hatten – auf Platz 4. Genau wie der Rest des Feldes. Dennoch fühlen wir uns alle wie Gewinner. Die Erlebnisse der letzten drei Wochen, die Begegnungen und Erfahrungen, die wir machen durften, geben uns allen Grund dazu. Glücklich und stolz prosten wir uns zu: Es ist vollbracht!

Hoch die Tassen!

Diese Errungenschaft feiern wir standesgemäß. Da es nach der Siegerehrung keine weitere offizielle Veranstaltung mehr gibt, beschließen wir gemeinsam mit einigen anderen Teams, die Stadt in Beschlag zu nehmen. Der Beschluss ist eindeutig: Heute gehen wir erst morgen ins Bett!

Als wir abgekämpft und müde schließlich wieder im Hotel eintrudeln, ist es tatsächlich schon wieder hell. Trotzdem finden nicht alle von uns den Eingang zum Zimmer. Einzelne Teammitglieder sollen alternativ auf dem Dach ihres Autos genächtigt haben – und erst nach einer Dusche mit dem Feuerlöscher wieder aus dem Koma sein. Die anderen verschlafen das fest eingeplante Frühstück im Hotel, und damit auch die Chance, den frisch gepressten Saft der selbstgepflückten Orangen zu probieren. Die hatten wir bei unserer Ankunft nämlich dem dankbaren Hoteldirektor überreicht. Aber mal ehrlich: Nach diesen drei Wochen muss so was auch mal drin sein. Oder?

 

Zugabe: Wir sind wieder da!

Dalyan (TR) → Alexandroupolis (GR) → Belgrad (SRB) → Ledenitzen (A) → Friedrichshafen

Wir fahren nach Hause!

Wir haben es einfach nicht übers Herz gebracht. Den ganzen Freitagabend nach der Siegerehrung kreisten unsere Gespräche um diese eine Sache: Warum lassen wir die Autos denn in der Türkei, wo wir doch noch gar nicht genug haben vom Fahren? Warum sollen wir damit den Kauf eines Hubschraubers für die Umweltbehörde in Dalyan unterstützen, anstatt, wie angekündigt, mit dem Erlös der Fahrzeuge Erdbebenopfern zu helfen? Und warum um alles in der Welt lamentieren wir so lange darüber, anstatt einfach zu handeln?

Irgendwann zwischen dem dritten und dem zwölften Bier muss aus diesen fixen Ideen ein konkreter Plan geworden sein. Jedenfalls haben wir uns direkt am nächsten Tag beim Rallye-OK unsere Fahrzeugbriefe zurückgeholt und uns – nachdem wir Samstagabend unsere Fehlzünder-Freunde verabschiedet hatten – am Sonntagmorgen auf den Heimweg gemacht. Und zwar auf Achse, nicht mit dem Flieger. Unterwegs haben wir die Grenzübergänge 13 bis 19 vollzogen und dabei mit Bulgarien und Serbien auch noch zwei neue Länder durchfahren, die wir auf dem Hinweg ausgelassen hatten. In Serbien gefiel es uns sogar so gut, dass wir in der Hauptstadt Belgrad, im wundervollen Authentic Belgrad Center Hostel, unseren zweiten Nachtstopp eingelegt haben. Den ersten hatten wir in Griechenland, etwas außerhalb von Alexandroupolis, im Auto verbracht. Dank der zauberhaften Dušica aus dem Hostel haben wir nicht nur erstklassig serbisch gegessen, sondern wissen auch ganz sicher, dass wir unbedingt mal wieder in Belgrad vorbeischauen müssen – tolle Stadt mit tollen Leuten!

Stopp Nummer drei war dann am Faaker See in Kärnten – ich kenne da von früheren Aufenthalten ein gutes Steakhaus. So haben wir uns in „Harry’s Farm“ schön mit Rumpsteak und Texasgemüse die Bäuche vollgeschlagen. Gegen 13 Uhr am Mittwoch, dem 24. Mai war dann aber auch für die letzten von uns das Abenteuer endgültig vorbei. Wir sind alle wohlbehalten und mehr oder minder gesund in unseren Heimatorten angekommen. Wenn uns aber jemand fragt, ob wir zufällig Lust hätten, spontan eine Rallye mitzufahren – wir müssten nicht lange überlegen…

Ein Ende kann ein Anfang sein

Was wir nun mit den Autos anstellen werden? Wissen wir noch nicht genau. Es laufen diverse Überlegungen. Auf alle Fälle werden wir einen bestimmten, noch nicht näher definierten Geldbetrag an eine gemeinnützige Organisation spenden. Also, an eine Organisation, die das Geld wirklich braucht. Als Ausgleich dafür, dass wir nicht zur Finanzierung eines Hubschraubers für eine der reichsten Regionen der Türkei beigetragen haben.

Vielleicht, ach was, ganz bestimmt nehmen wir die Autos noch einmal mit auf Tour. Baltic Sea Circle oder Dresden-Dakar-Banjul sind zwei mögliche Optionen, die uns für die Zukunft so im Kopf herumschwirren. Oder nochmal Allgäu-Orient? 2017 soll es ja wieder nach Jordanien gehen!
Mal sehen. Doch alles zu seiner Zeit. Die nächsten Wochen werden hart genug, denn wir werden erst einmal versuchen müssen, wieder Anschluss an den ganz normalen Alltagswahnsinn zu finden.

Ganz ehrlich? Wir könnten uns Tolleres vorstellen. Rallyefahren zum Beispiel …