Tag 13, 7. März 2019: Raudsilla – Tallinn – Riga (Lettland)

Gefahrene Kilometer: 382
Fahrzeit: 10 Stunden
Landesgrenzen: eine
Temperatur am Zielort: +5° C

Und wie wir das mit dem Bier und dem Wodka bereuen! Vom neuen Tag will ich persönlich jedenfalls zunächst noch wenig wissen. Das Frühstück um 8 im Zelt verpenne ich komplett und auch nachdem man mich geweckt hat, brauche ich ein paar Minuten, um den Nebel in meinem Kopf zu lichten. Den anderen geht es aber nicht viel besser: Stefan hat im Armeezelt so gut wie gar nicht geschlafen, Lars hatte im Auto keine Decke, Tanja hat sich auf dem harten Eisboden die Schulter kaputt gelegen und der Rest blick ebenfalls recht zerknautscht in die Landschaft. Marcel versucht, die Müdigkeit mit einem kleinen Ausritt auf dem Zipfelbob zu vertreiben, den er per Spanngurt an Ingeborgs Anhängerkupplung befestigt. Die Anderen beobachten diesen verzweifelten Akt mit Argwohn und Kopfschütteln – andererseits werden wir wohl heute das letzte Mal Gelegenheit haben, im Schnee zu spielen, denn für unser Tagesziel, die lettische Hauptstadt Riga, verkündet der Wetterbericht Plusgrade und Regen. Der Kurs zeigt unweigerlich nach Süden, und dort ist der Winter für diese Saison merklich auf dem Rückzug.


Zunächst aber genießen wir unsere bestimmt-nicht-ganz-0,0-Promille-Fahrt durch das weiß-grau vorbeiziehende Estland, so gut es unsere körperliche Verfassung zulässt. Nach einer guten Stunde erreichen wir die estnische Hauptstadt Tallinn, wo wir uns bei einem Stadtspaziergang ein wenig die Beine an der frischen Luft vertreten möchten. Wir haben kaum unsere Autos in der Nähe des Bahnhofs abgestellt und die steilen Treppen in die hochgelegene Altstadt erklommen, da werden wir auch schon auf Deutsch von einem alten Mann angesprochen. Juri ist sein Name. Ob wir Touristen seien und ob wir Stadtpläne von Tallinn haben wollen, möchte er von uns wissen. Überhaupt sei er als Stadtführer tätig und wenn wir Zeit und Lust hätten, würde er uns eine Stunde lang für einen Euro pro Person durch den historíschen Stadtkern lotsen. Da er nach eigenen Angaben sein ganzes Leben in Tallinn verbracht hat, scheint er für diesen Job prädestiniert – deshalb nehmen wir das Angebot gerne an. Und so hängen wir für die nächsten 55 Minuten treu an Juris Hacken und lauschen interessiert seinen Erzählungen. Dass Tallinn einst als Hansestadt von dänischen und deutschen Kaufleuten gegründet wurde, als deutsche Stadt lange den Namen Rewal trug und heute an die 500000 Einwohner hat. Dass das historische Stadtzentrum, das neben unzähligen Souvenirshops vor allem Ministerien, das Parlament und offizielle Repräsentanzen anderer Nationen beherbergt, einst von deutschen Adelsfamilien sein heutiges Antlitz erhielt. Und dass der hoch über der Unterstadt auf einem Felsen thronende Hermannsturm, auf dem stolz die estnische Fahne weht, ein offizielles Wahrzeichen des 1991 wieder in die Unabhängigkeit entlassenen Baltenstaates Estland sei. Die Farben der blau-schwarz-weißen Nationalflagge stehen für Himmel, Erde und Ostsee, und selbige Ostsee erblicken wir vom oberen Teil der Altstadt auch samtgrau schimmernd am Horizont. „Im Winter ist es hier in Tallinn ziemlich ruhig, aber am 1. Mai beginnt die Kreuzfahrt-Saison, dann legen hier jeden Tag die Aida-Schiffe an“, erklärt uns Juri – und lacht: „Dann kann man die meisten Sachen hier auch nicht mehr kostenlos besichtigen, sondern muss Eintritt bezahlen – Ihr habt also Glück!“


Als Estland noch Teil der Sowjetunion war, hat unser Reiseführer seine Brötchen als Bauingenieur verdient. Nun nutzt er Tallinns exponierte Rolle als Zwischenziel für Ostsee-Kreuzfahrer, um mit seinem über die Jahrzehnte erworbenen Wissen seine Rente aufzubessern. Zielstrebig leitet er unsere kleine Gruppe durch die engen, verwinkelten Kopfsteinpflaster-Gassen der Altstadt, versinkt in den vergangenen, glorreichen Epochen seiner Heimat, hat aber auch die Probleme der Gegenwart und Zukunft im Blick: „Uns Esten geht es natürlich heute besser als in der Sowjetunion, aber viele unserer gut gebildeten Jugendlichen zieht es trotzdem ins Ausland zum Arbeiten. Oft bleiben nur die Alten hier – kaum ein Bus- und Straßenbahnfahrer in Tallinn ist jünger als 60 Jahre.“ Dass Estland zudem unter akuter Landflucht leidet und sich das Leben großteils in den wenigen größeren Städten abspielt, während die ländlicheren Regionen sichtbar veröden, konnten wir bereits bei unserem Streifzug durch das Land erkennen. „Aber Estland ist auch wichtige Land für Treffen von Politikern. Schröder und Merkel waren schon da, Putin, Obama und auch Clinton – mit Monica!“ Seinen Humor hat der alte Haudegen jedenfalls nicht verloren…
Gerne hätten wir den Stadtrundgang mit unserem neuen Freund noch weiter in der Unterstadt fortgesetzt, aber unsere Zeit wird knapp – deshalb bedanken wir uns herzlich bei Juri und verabschieden uns mit einem gemeinsamen Foto, bevor wir im Tallinn Beer House (Juri: „Das ist unsere Oktoberfest, gibt auch große Bier hier“) zu Mittag essen. Statt Bier steht bei uns allerdings mehrheitlich Sprudel und Saftschorle auf dem Tisch. Der zum Essen servierte Senf, vor dem uns unsere vollbusige Bedienung Irina eindringlich gewarnt hat („very, very spicy – be careful!“), pustet aber tatsächlich die letzten bösen Geister des gestrigen Abends aus unseren Köpfen.


Auf dem weiteren Weg nach Riga halten wir kurz an einem alten, verfallenen Gefängnis, dessen Ruinen heute inmitten eines zugefrorenen Baggersees residieren, und das uns im Roadbook als besonders lohnenswertes Zwischenziel angepriesen wird. Die Ruinen, die wir vor Ort antreffen, sind aber ziemlich nichtssagend – als Gefängnis ist das Steingerippe jedenfalls nicht mehr wirklich zu erkennen. Trotzdem posieren wir fürs obligatorische Gruppenbild und düsen dann endgültig in Richtung Riga.


Als wir am Abend schließlich mit unseren Volvos vor den Toren der größten Stadt des Baltikums stehen, ist es längst dunkel geworden. Schnee haben wir tatsächlich seit guten zwei Stunden keinen mehr gesehen, stattdessen plätschert unaufhörlich der Regen auf die Autodächer. Wir bugsieren unsere Vehikel vorsichtig durch die engen Altstadt-Sträßchen bis zu der Wohnung, die wir zuvor abermals über Air BnB gemietet haben. Da wir vor Ort nicht parken können, laden wir nur kurz aus und stellen die Volvos ein paar Straßen weiter in einem großen Parkhaus unter. Danach machen wir uns frisch und kehren zum Abendessen im Restaurant „Melnais Kiploks“ ein. Der Wirt dort hatte wohl im Kopf schon mit dem nahenden Feierabend geliebäugelt – entsprechend distanziert ist zunächst die Stimmung. Das Eis ist aber schnell gebrochen, als Tanja ihn mit ihrem müden Hundeblick etwas desorientiert nach der Toilette fragt. Mit einem akzentbehafteten „Komm zu mir“ weist er unser sichtlich überfordertes weibliches Teammitglied ein – und muss dabei selbst lachen.
Danach bestellen wir todesmutig Vorspeisenplatten und Hauptgerichte und hoffen, dass uns der Koch trotz der damit anfallenden Überstunden nicht ins Essen spucken wird.


Aber schon bei der Vorspeise stellen wir fest, dass diese Sorge völlig unbegründet war. Wir sind von den knoblauchlastigen Speisen hellauf begeistert und küren mit den nachfolgenden Hauptgerichten den Abend zu einem unserer kulinarischen Highlights. Tartar, Meeresfrüchte, Roastbeef und bunte Salate krönen unseren Abend.
Der Wirt lauscht derweil unseren Tischgesprächen und fängt plötzlich an, mit uns über deutschen Fußball zu philosophieren. Er erzählt uns von seinem Besuch eines Fußballspiels in Dortmund und untermalt seine Ausführungen mit ausladenden, latent eine Prügelei andeutenden Gesten. Wir lachen gemeinsam und sind uns noch etwas unklar, was er uns damit sagen wollte. Als wir später aufstehen und uns verabschieden, fragt ihn Tanja daher etwas direkt: „Are you a hooligan?“
Der Wirt macht ein erschrockenes Gesicht und muss abermals lachen. Sein freundschaftlicher, wuchtiger Handschlag zum Abschied entkräftet den Verdacht nicht wirklich. Es besteht aber kein Zweifel, dass wir es hier, wenn ja, mit einem sehr netten Hooligan zu tun hatten.
Gerne würden wir das Nachtleben der pulsierenden Hauptstadt Lettlands weiter austesten, deren Flair uns von Anfang an begeistert hat. Dafür sind wir heute Abend aber leider einfach zu müde, die verrückten Holländer müssen ohne uns feiern – wie machen die das eigentlich jeden Tag? Wir nehmen uns aber fest vor, Riga bald einen Besuch mit dem Flugzeug abzustatten.
Und so trotten wir erschöpft und satt zu unserer Unterkunft zurück, wo wir innerhalb weniger Minuten in Tiefschlaf versunken dem neuen Tag entgegen schlummern.

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