Tag 12, 6. März 2019: St. Petersburg – Raudsilla (Estland)
Gefahrene Kilometer: 329
Fahrzeit: 8 Stunden
Landesgrenzen: eine
Temperatur am Zielort: -3° C
Hui, was ist denn das? Der routinemäßige Blick morgens aus dem Fenster unseres Appartements auf die Straße bietet den Augen eine spitze Überraschung: Eine Batterie mächtiger Eiszapfen hängt vor dem Fenster drohend hinab in Richtung Gehweg. Waren die gestern auch schon da? Sieht jedenfalls ziemlich gefährlich aus. Ein beherzter Stoß, und die eisigen Gebilde würden zur potenziellen Mordwaffe für jeden arglos darunter hinwegstapfenden Passanten.
Tatsächlich stellen wir eine halbe Stunde später beim Hinaustreten auf die Straße fest, dass die Damen und Herren vom St. Petersburger Winterdienst diese Gefahr ebenfalls erkannt haben. Die betreffenden Flächen unterhalb der Häuser sind weiträumig mit Absperrpand gekennzeichnet. Unten managen die Damen den teils auf die Straße umgeleiteten Fußgängerverkehr, während oben auf den Hausdächern die Herren mit Schaufel und anderem Gerät Schnee und Eis kontrolliert hinunterstürzen lassen. Der Trupp wandert oben wie unten die gesamte Straße entlang von Block zu Block. Die in luftiger Höhe werkelnden Eisliquidatoren scheinen auf den Dächern irgendwo angebunden zu sein – sehr beruhigend…
Wir schlängeln uns unten entlang der mobilen „Baustellen“ hindurch bis zu einem Café, wo wir einmal mehr ein deftiges, reichhaltiges russisches Frühstück zu uns nehmen. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen durchgesetzt: Hier kann man fast alles bestellen – es schmeckt immer. Man weiß manchmal nur nicht, ob es süß oder salzig schmeckt, ehe man hineinbeißt.
Das wundervoll sonnige Winterwetter animiert uns zu der Idee, vor unserem endgültigen Abschied aus Zar Peters Heimat noch ein Rallye-Poserfoto mit Auto an der prunkvollen Winterresidenz des Stadtgründers zu schießen. Wann kommt man schon mal wieder mit dem Auto durch St. Petersburg? Die drei Kilometer bis dorthin kosten uns allerdings eine Dreiviertelstunde Zeit und noch ein Vielfaches mehr Nerven. Der Verkehr hier ist wirklich grauenvoll – wer bitte tut sich sowas freiwillig an?
Am Ziel angekommen, fahren wir verbotenerweise auf den Schlossplatz und beeilen uns mit dem Gruppenbild, weil wir in einiger Entfernung schon diverse Polizeiaktivitäten wahrgenommen haben und Ärger mit den Gesetzeshütern jetzt so ziemlich das Letzte ist, was wir brauchen können. Zum Glück für uns scheint auch die Gegenseite nicht an Zoff interessiert zu sein: Der Streifenwagen fährt mit demonstrativer Ignoranz an uns vorbei und wir halten noch ein Schwätzchen mit dem Landrover-Team aus dem Vogtland, das sich gerade (ohne Auto) die Stadt anschaut. Dann düsen wir los in Richtung Ivangorod, wo wir heute über die estnische Grenze huschen möchten. In der Einflugschneise des Petersburger Flughafens Pulkovo erfreuen wir uns ein letztes Mal an den unfassbar billigen Benzinpreisen (der Liter Super kostet in Russland nicht einmal 60 Cent), prüfen die Ölstände – und stellen dann mit Entsetzen fest, dass der in Saariselkä für den Apothekenpreis von 50 Euro erstandene Fünfliterkanister Öl ganz offensichtlich noch immer dort vor der Tanke stehen muss. In den Autos ist jedenfalls keine Spur von ihm zu finden. So kann man die Kohle natürlich auch verschleudern. Leider ist Öl in Russland nicht annähernd so günstig wie Benzin, und so müssen wir fürs notgedrungen neu gekaufte Einlitergebinde beinahe Westpreise bezahlen. Aber hier zu sparen, hieße an der falschen Stelle sparen…
Unterwegs zur Grenze zieht rechts und links von uns Dorf um Dorf vorbei. Hier auf dem Land scheint Holz der bevorzugte Baustoff zu sein. Wenig verwunderlich, wenn man sich die riesigen Waldflächen ansieht, die um die Dörfer herum wachsen. Dann erreichen wir kurz vor Sonnenuntergang die Grenze, warten eine gute Stunde auf die Passklontrolle, lassen uns von einer miesgelaunten Zöllnerin halbherzig filzen und stehen – mittlerweile ist es draußen dunkel – schließlich einem sympathisch lächelnden estnischen Grenzer gegenüber, auf dessen Jacke groß und fett der Aufdruck „Politsei“ zu lesen ist. „Politsei“ – wie witzig! Mit der Uniform würde man in Deutschland auch beim Fasching eine gute Figur machen.
Eine Stunde später, nach etwa 70 Kilometern Fahrt über langweilige estnische Landstraße, biegen wir in einen klitzekleinen zugeschneiten Waldweg ab, wo wir nach weiteren anderthalb Kilometern an unserem heutigen Etappenziel Raudsilla ankommen. Hier trifft sich heute Abend das gesamte Starterfeld zu Freibier, Buffet und Party – und das dafür vom Veranstalter auserkorene Gelände ist wirklich der Hammer. Auf einem ebenso weitläufigen wie urigen Areal stehen mehrere übergroße Holz-Tipis. Das mit Abstand größte davon – mit riesiger Feuerstelle in der Mitte und Sitzbänken drumherum, ist bei unserer Ankunft schon gut gefüllt. Becher für Becher geht das Bier über den Tresen, das Buffet ist mit warmen wie kalten Köstlichkeiten – Fleisch, Fisch, Gemüse, Kartoffeln – hochkarätig bestückt und von der Bühne am anderen Ende schallt schon die Musik. Hier lässt es sich aushalten!
Wer will, kann sich etwa 100 Meter weiter in einem der dort aufgebauten Armeezelte aus olivgrünem Stoff häuslich einrichten – direkt auf dem Schnee, nur die Isomatte dazwischen. Auch hier sorgt ein kleiner Holzofen in der Mitte für vertretbares Klima. Das absolute Highlight an diesem Abend aber sind die beiden Natursaunen, die sich – direkt an einem kleinen, halbgefrorenen Fluss gelegen, in den übrigen Holz-Tipis verbergen. Der Wahnsinn! Steinerne Feuerstellen, rustikale Holzbänke, darüber das niedrige hölzerne Dach und das schummrige gelbe Licht schwach leuchtender Petroleumlampen lassen erahnen, wie man in Estland vor Urzeiten das Saunieren zelebriert hat. 80 Grad Celsius schwitzen jede Müdigkeit aus den Knochen, das mitgebrachte Bier bettet in Ergänzung dazu den neu erwachenden Geist in Watte – der anschließende beherzte Sprung vom Holzsteg in den Eisfluss setzt dem Ganzen ultimativ die Krone auf. Und wer danach noch weiter entspannen möchte, lässt sich in den nebenan köchelnden, holzbefeuerten Badezuber gleiten, atmet die kalte estnische Winterluft und genießt die einzigartige Atmosphäre an diesem wirklich sehr ursprünglichen und abgelegenen Ort.
Dreimal genehmigen wir uns an diesem Abend diese famose Prozedur und teilen uns den Holz-Pool mit ein paar (positiv) verrückten Holländern. Danach mischen wir uns im großen Tipi unters Partyvolk und feiern bis in den frühen Morgen hinein. Lars und ich sind die letzten, die gegen vier Uhr in den Autos verschwinden, während der Rest des Teams sich fürs Schlafen im Militärzelt entschieden hat. Wir beide wissen, dass wir zumindest das letzte Bier und den letzten Wodka schon in ein paar Stunden bereuen werden – aber im Moment kann uns das schlechte Gewissen noch kreuzweise.