Tag 9, 3. März 2019: Saariselkä – Murmansk (Russland)
Gefahrene Kilometer: 324
Fahrzeit: 12,5 Stunden
Landesgrenzen: eine (und was für eine…)
Temperatur am Zielort: -12° C

Saftige 23 Grad unter Null begrüßen uns am Morgen des neunten Rallye-Tages. Das Roadbook hat nicht gelogen, als es Finnisch-Lappland als „wahrscheinlich kältesten Teil der Rallye“ beschrieb. Das kalte Klima macht auch den Autos zu schaffen – und zwar spürbar. In der Whatsapp-Gruppe häufen sich schon seit gestern Abend die Meldungen über kältebedingte Ausfälle. Vor allem die Diesel-Fahrzeuge haben mit den Temperaturen ihre liebe Mühe. Und auch wir sind nicht ganz ungeschoren davongekommen: Einem unserer Volvos hat es gestern in voller Fahrt das Benzinpumpen-Relais gekillt. Für uns jedoch kein Grund zur Panik: Unser Volvo-Flüsterer Lars hatte selbstverständlich ein Ersatz-Relais dabei. In fünf Minuten war die Sache erledigt: altes Relais raus, neues rein – Schnellreparatur mitten auf der Hauptstraße. Seitdem schnurrten alle drei Boliden wieder solide vor sich hin und brachten uns zuversichtlich ans Ziel.


Nun aber standen sie die ganze Nacht untätig in der Kälte, während wir in unserer finnischen Blockhütte von kommenden Taten träumten. Und da via Whatsapp ein Team nach dem anderen Startprobleme meldet, ereilt auch uns die bange Frage: Werden die Autos anspringen?
Minuten später lachen wir darüber, dass wir uns diese Frage überhaupt gestellt haben. Natürlich sind sie angesprungen. Ohne Murren, ohne zuckeln – geschmeidig und leicht wie eh und je. So einen V70-Motor wirft eben nichts so schnell aus der Bahn!
Zum Warmfahren bleibt jedoch wenig Gelegenheit, denn der erste Teil unserer heutigen Etappe dauert nur gut zehn Minuten. Von Saariselkä aus düsen wir knapp vier Kilometer ins Hinterland, wo wir in Sichtweite eines Skilifts schon mit Tee und Keksen vom Rallye-OK begrüßt werden. Wir parken unsere Autos und stellen die Motoren ab, denn für die nächste halbe Stunde werden wir unser bewährtes Fortbewegungsmittel gegen ein anderes Spaßgerät eintauschen: Was dem Deutschen sein Motorrad, ist dem Finnen das Schneemobil. An jeder Ecke sieht man die Jungs und Mädels auf den fetzigen Motorschlitten querfeldein sausen. Es gibt sogar ausgewiesene Schneemobil-Strecken von Ort zu Ort. Ziemlich cool! Klar dass wir das auch mal ausprobieren möchten. Fazit: macht tierisch Laune, ist aber auch saukalt, denn bei 50 km/h und ohne Windschutz kommen einem die Minusgrade noch ein paar Ecken extremer vor. Vor allem dann, wenn einem die Atemluft das Helmvisier vereist und man deshalb die Hälfte der Strecke entweder im totalen Blindflug oder mit offenem Visier zurücklegen muss. Da freut sich das Gesicht! Noch Minuten später klebt mir das Eis am Bart. Der Wechsel zurück ins (allerdings auch arschkalte) Auto fällt mir daher nicht sonderlich schwer.


Nach dem kurzen Schneemobil-Intermezzo machen wir uns auf direktem Weg von Saariselkä über Ivaro an die finnisch-russische Grenze. 65 Kilometer trennen uns noch von Putins Reich. Auf halbem Weg müssen wir allerdings eine Zwangspause einlegen: Barney und Stefan erhalten von ihrem XC70 plötzlich keine Leistung mehr. Offensichtlich streikt der Turbolader – mehr als 80, 90 Sachen sind aktuell nicht drin. Doch während unsere Technik-Crew am Straßenrand kontrovers diskutiert, wie man dieses Problem möglichst elegant kaschieren könnte, besinnt sich der Lader mit einem Mal doch wieder seiner Pflichten und meldet sich aus dem Kältestreik zurück zum Dienst. Wir können die Reise fortsetzen – mal sehen, wie lange…
Dann erreichen wir das Ostende Finnlands. Wir zeigen dem Zollbeamten unsere Pässe und wollen die Gunst der Stunde für eine letzte Pinkelpause nutzen – doch das Klo ist verschlossen. Auf Marcels vage Frage, ob er stattdessen kurz im Wald austreten könne, antwortet der Finne mit verschmitztem Grinsen: „Yes of course – but on the Russian side please.“ Alles klar, verstanden. Verdrücken wir uns die Sache halt.


Keine zwei Kilometer weiter dann das Nadelöhr, das uns als letzte Barriere vom weiteren Vormarsch nach Osten trennt: die russische Grenzstation Lotta. Viele Gerüchte haben wir im Vorfeld darüber gehört, wie kompliziert es sei, mit dem Auto nach Russland zu reisen. Tatsächlich müssen wir nach einer ersten Pass- und Visakontrolle jede Menge Formulare ausfüllen, mit denen wir unter anderem erklären, dass wir mit dem angemeldeten Auto nicht nur nach Russland ein-, sondern auch wieder ausreisen möchten. Doch entgegen vielfach grassierender Klischees sind die russischen Zöllner äußerst kollegial und unterstützen uns nach Kräften beim Erledigen des Papierkrams. Sogar das eine oder andere Lachen ist den Grenzern dabei zu entlocken – bis einer der Kollegen bei der an sich ziemlich laxen Kontrolle unseres Autos in der Mittelkonsole einen Gegenstand entdeckt, der ihm sofort suspekt ist. Die gute Stimmung ist mit einem Mal verflogen. „What’s that?“, will der Mann mit dem roten Gesicht von mir wissen. Ich zucke mit den Schultern: „no idea!“ Natürlich weiß ich, was der Zöllner da aus unserem Auto gefischt hat: Wir Idioten hatten doch tatsächlich die ganze Zeit über einen Schlagstock dabei – und wussten nichts davon! Der lag seit der letzten Rallye im Auto, weil man uns seinerzeit eindringlich vor den aggressiven streunenden Hunden in der Türkei und auf dem Balkan gewarnt hatte. Gebraucht haben wir ihn schon damals nicht – und ihn deshalb vollkommen vergessen.


Doch das ist den Beamten jetzt alles ziemlich egal. „We do not need it, you may throw it away“, versuche ich noch, die Situation zu retten. Keine Chance! Stattdessen marschiert der treue Staatsdiener zielstrebig ins Zollgebäude – und kommt wenig später mit seinem Vorgesetzten zurück. Auch der, vorher noch der nette Onkel, der zusammen mit uns Formulare ausgefüllt hat, legt nun ein bierernstes Gesicht auf: „That is very bad situation now“, erklärt er mir. „This item is gun. It cannot shoot, but it is weapon. Cold gun. It’s not allowed. You may not go to Russia now – you will have to wait until we have checked the situation.“ Au Backe – Waffenschmuggel nach Russland? Gar keine gute Idee…
Während ein Zöllner nun das Corpus Delicti von allen Seiten fotografiert und schließlich an sich nimmt, bleibt Marcel und mir nichts anderes übrig, als abzuwarten. Nach und nach passieren alle anderen Teams, die über Russland fahren, ohne große Probleme die Grenze. Wehmütig sehe ich ihren davonbrausenden Autos nach, während unser Volvo noch immer an Ort und Stelle vor der rettenden Schranke verharrt. Stunde um Stunde verstreicht. Ich fühle mich ziemlich ausgeliefert. Hier kann keiner richtig Englisch – und ich spreche kein Russisch. Die könnten mit mir machen, was sie wollen, ich könnte mich nicht dagegen wehren.
Doch zum Glück sind wir nicht in Hollywood, sondern in der Wirklichkeit. Denn während im Film die Russen fast immer die Bösen sind, bemühen sich die russischen Grenzer hier in Lotta nach Kräften, die Angelegenheit für mich so angenehm wie möglich zu regeln. Dazu rufen sie sogar ihre Geheimwaffe aus dem Feierabend zurück in den Dienst: Ab sofort kümmert sich Kollegin Lena um meinen Fall. Lena spricht sehr gut Englisch und wird für die nächsten beiden Stunden die wichtigste Person in meinem Leben. Mit ihrer Hilfe wühle ich mich durch Erklärungen und Formulare, schreibe einen Text, in dem ich mich – möglichst unverfänglich – zu dem Vorfall
äußere und erfahre, wie es nun für mich weitergeht. „Du wirst von uns eine Email bekommen, in der eine Strafe festgesetzt ist. Die musst Du dann bezahlen – aber keine Sorge, für Dich wird das nicht viel sein.“ Lena liest mir auch die kyrillischen Texte vor, die ich quittieren soll. Da ich kein Wort verstehe, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr voll und ganz zu vertrauen. „Now I can do with you whatever I want“, scherzt sie. Ich lache verlegen mit. Dann erzähle ich ihr von unserer Tour, wo wir schon überall waren, und wo wir noch hinwollen. Spätestens jetzt ist das Eis gebrochen: „Wow, please don’t tell me more, I’m still at work – I’m getting really jealous!“ In der Folge werden unsere Dialoge immer persönlicher. Wir erzählen uns gegenseitig aus unserem Alltag, und sie berichtet mir stolz, dass sie schon einmal in Stuttgart gewesen sei – „beim Elton John-Konzert!“ Zum Schluss muss ich auch noch einen russischen Satz selbst schreiben, in dem ich erkläre, dass ich auf Rechtsansprüche gegen die Zollbehörde verzichte – selbstverständlich in kyrillischen Buchstaben. „Ich zeige Dir, wie es geht, und Du malst die Buchstaben einfach nach“, sagt Lena. Saustark, denke ich mir – jetzt lerne ich hier auch noch Russisch!
Dann dauert es weitere 15 Minuten, bis schließlich die erlösende Botschaft durch den Raum schallt: „Patrick! You may go. Welcome to Russia!“ Ich bedanke mich überschwänglich bei meiner uniformierten Freundin, bevor Marcel und ich uns eilig ins Auto verziehen, wo sich vor uns endlich der Schlagbaum öffnet. „I am sure you will never forget this“, ruft mir Lena noch hinterher. Ohja, da bin ich mir sicher. Aber jetzt zählt nur eins: Wir haben freie Fahrt nach Russland – nach über vier Stunden Warten an der Grenze.!
Fünf Kilometer im Landesinneren haben sich die anderen Teammitglieder währenddessen schon mit einem einheimischen Bauern angefreundet und diverse Alkoholika ausgetauscht. Nun geht es im Sonnenuntergang über die holprige Schneepiste nach Murmansk – Verfahren unmöglich: Durchs westrussische Niemandsland gibt es keine zweite Straße. Schneller als 70 km/h kommen wir aber trotzdem nicht voran auf dieser buckligen Stoßdämpfer-Teststrecke.


Gegen 22 Uhr Ortszeit rücken wir schließlich in Murmansk ein. Da wir alle ausgehungert sind, steuern wir direkt das Restaurant Tundra an, nach dem wir uns bei Einheimischen mit Hand und Fuß Richtung Zentrum durchgefragt haben. Sie sind wirklich freundlich, die Russen – man versteht sie nur so schlecht. Beruht allerdings auf Gegenseitigkeit…


Im Tundra lassen wir es uns für ein paar schmale Rubel ordentlich schmecken – natürlich geht die Runde auf mich. Danach buchen wir online zwei Appartements in einem völlig abgeranzten Plattenbauviertel hoch über der City – mit Panoramablick auf Bahnhof und Güterhafen. Und während die anderen vier sich direkt fürs Bett entscheiden, machen Marcel und ich noch einen ausgedehnten Nachtspaziergang durch Murmansk, das bis 1991 militärisches Sperrgebiet war und erst danach als Stadt richtig aufblühen konnte. Im Hafen bestaunen wir den stillgelegten Atom-Eisbrecher „Lenin“, laufen einer riesigen Schienen-Schneefräse über den Weg und lassen die dieselrußgeschwängerte Atmosphäre der russischen Industrie- und Hafenstadt auf uns wirken, bevor auch wir gegen halb 2 todmüde in die Betten fallen. Die Nacht wird wieder kurz: Schon um 7 wollen wir weiterziehen.

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