Tag 5, 27. Februar 2019: Inhavnet – Liland/Lofoten

Gefahrene Kilometer: 371
Fahrzeit: 10 Stunden
Landesgrenzen: keine
Temperatur am Zielort: 1° C

Der nächste Morgen: Regen, Regen, Regen. Und jede Menge Wind! Der hat uns heute Nacht echt ordentlich durchgeschüttelt. Gut, dass unsere Autos so schwer beladen sind – wer weiß, ob uns die Böen nicht noch fortgeblasen hätten…


Eigentlich möchte man bei so einem Kackwetter ja gar nicht aus dem Schlafsack kriechen – und schon gar nicht das Auto verlassen. Aber wir müssen, denn wir haben noch was vor heute. Deshalb sind wir schon ein paar Minuten später wieder unterwegs: In Bognes wollen wir den nächsten Versuch wagen, auf die Lofoten überzusetzen. Laut Webseite der Betreibergesellschaft verkehrt die Fähre dort heute wieder nach Plan – das Schiff um 10.45 Uhr soll unseres werden.


Leider prophezeien auch die Wettervorhersagen für die Lofoten nichts Gutes heute. Hier ist ebenfalls Regen angesagt, und so bietet sich uns bereits vom Schiff aus ein relativ trüber Blick auf Norwegens landschaftlich vielleicht reizvollste Region: tiefhängende Wolken verhüllen beständig die Felshänge der Fjorde vor unseren neugierigen Blicken, und statt weiß gezuckerter Bergkuppen dringen nur trüb-graue Felsfetzen, graue See und grauer Himmel in unser Sichtfeld. Marcel zieht es deshalb vor, während der Überfahrt mit dem Chefmaschinisten der Fähre im Maschinenraum zu verschwinden und sich dort den mächtigen Sechszylinder-Schiffsdiesel made by Bergen zeigen zu lassen. Damit zieht er natürlich den Neid der anderen Ingenieure im Team auf sich – aber der ist schnell wieder verflogen, als sich nach einer guten Stunde Fahrt die Ladeluke der Fähre öffnet und wir mit unseren Boliden das Schiff mit Kurs nach Westen hinter uns lassen. Denn auch wenn die trübe Sicht uns nur einen Bruchteil dessen offenbart, was sich hinter Wolken vor uns versteckt: wir sind sofort geflasht von den Lofoten. Und ein sehnsuchtsvoller Gedanke beschleicht uns: Wenn das hier in Grau schon alles so toll aussieht, wie schön könnte es erst sein, wenn die Sonne darauf scheinen würde?


Leider hält sich die Ersehnte auch in der Folgezeit konsequent vor uns versteckt, und nur hin und wieder erwischen wir ein kleines Loch in der Wolkendecke, durch das schemenhaft der blaue Himmel scheint. Trotzdem genießen wir unsere Fahrt auf der Hauptsraße E10 in vollen Zügen, hoffen nach jedem durchfahrenen Tunnel auf Wetterbesserung und freunden uns bei einer kurzen Pause sogar mit einem Franzosen-Pärchen an, das hier auf den Lofoten sesshaft werden möchte.
Bei Fiskebol biegen wir von der E10 nach rechts auf eine kleine Nebenstraße ab, die sich erst mehrere Kilometer um die Fjorde der Nordküste schlingt und uns später mit einem beherzten Linksschwenk durchs Landesinnere zurück auf die E10 leiten soll.


Auf unsere Windschutzscheiben rieselt noch immer der Regen, trotzdem lassen wir es uns nicht nehmen, immer wieder zu stoppen und unsere rollenden Behausungen für ein paar Minuten zu verlassen. Zum Glück haben wir heute auch mal keine Eile, sondern können uns die vielen kleinen Pausen und Ausflüge zu Fuß gut leisten. Alles andere wäre auch frevelhaft bei der Umgebung – trotz Regenwetter! So bestaunen wir die steilen Berghänge, die sich nach jeder Kehre majestätisch aus den teils eisbedeckten Meeresarmen erheben, lassen uns die Gischt der vom Sturmwind gepeitschten Atlantikwellen ins Gesicht spritzen, pflügen mit den Volvos über matschig-nasse Feldwege, gehen im Städtchen Svolvaer Fisch essen und ergötzen uns abends an den letzten schwachen Lichtfetzen des Tages. Gepaart mit immer mehr aufklarender Sicht verleiht die winterblaue Dämmerung Wasser wie Bergen eine fast surreale Atmosphäre.


Inzwischen fahren wir auf der E10 wieder nach Osten, wo wir 50 Kilometer vor Narvik in Liland ein kleines Häuschen für die Nacht gemietet haben. Diesen Luxus wollten wir uns als Belohnung für die Strapazen gestern nicht vorenthalten.
Außerdem ist heute der Tag gekommen, an dem wir unsere aus Schweden mitgebrachte Konserven-Köstlichkeit verspeisen wollen: feinster Surströmming, im Volksmund auch abfällig als „Stinkefisch“ bezeichnet. Dass man den so nennt, hat einen bestimmten Grund: Surströmming ist in Salzlake eingelegter Hering, der mittels gezielter Vergärung haltbar gemacht wird. In Konservendosen abgefüllt, gärt der Fisch weiter – wenn die Dose sich infolgedessen oben wie unten wölbt, ist er verzehrfertig. Man sieht dem Behältnis an, dass es unter Druck steht – und man kann deshalb auch leicht erahnen, dass einem der ganze Schnodder direkt entgegenspritzt, wenn man vor lauter Hunger die Dose zu energisch öffnet. Dass einem nach dem ersten Ansetzen des Dosenöffners direkt die feinen Nuancen vielschichtiger Faulgase als Appetitanreger um die Nase wehen, kommt von der Buttersäure und den Schwefelwasserstoffen, die sich während des Gärprozesses bilden. Klingt doch deliziös, oder?


Auf jeden Fall ist es dieses Juwel schwedischer Kulinarik allemal wert, dass man es probiert. Das gehört sozusagen zum Selbstverständnis eines echten Skandinavien-Urlaubers. Da wir aber die Küche unseres norwegischen Kurzzeit-Domizils nicht mit herumspritzender Buttersäure-Schwefelwasserstoff-Salzplörre kontaminieren möchten, verlegen wir die Surströmming-Verköstigung kurzerhand nach draußen auf Ingeborgs Motorhaube. Zum Fisch reichen wir – nach schwedischer Tradition – rote Zwiebeln und Kartoffeln, zum anschließenden Mundausspülen wird wahlweise Bier oder Milch kredenzt. Da wir alle ausgewiesene Gourmets sind, haben wir aus unserem in Schweden akquirierten Surströmming-Sortiment die rote Dose ausgewählt, auf der „Filé“ steht. Wenn schon dekadent, dann richtig!
Doch schon beim Ansetzen des Dosenöffners der erste Fauxpas: Kaum habe ich die Dose angespitzt, schon verteilt sich in hohem Bogen die Lake über die ganze Haube, saut Hände und Jackenärmel ein – und lässt vor allem Lars unvermittelt einen großen Schritt nach hinten treten, während der fragile Dosenöffner in seine Einzelteile zerspringt. Ok ja, das Zeug stinkt. Ziemlich heftig sogar – aber um ehrlich zu sein, ich habe während unserer Reise schon Flatulenzen von Teammitgliedern riechen müssen, die ich als weitaus schlimmer empfunden habe. Von der mit Vorfreuden erwarteten Geschmacksexplosion im Mund lasse ich mich – nachdem ein Ersatz_Öffner gefunden ist – deshalb nicht abbringen. Energisch spieße ich eins der in der Stinkelake schwimmenden Filetstückchen auf – und betrachte es zunächst fachmännisch: etwas glitschige Konsistenz, aber gesunde Färbung – ein wenig wie Matjes. Kein Wunder, die Zubereitungsarten von Matjes und Surströmming ähneln sich ja auch. Dann aber gibt es kein Zurück mehr: Ich führe die Gabel zum Mund, beiße herzhaft in den Fisch und – kaue ganz normal. Kein Brechreiz, keine Würgreflexe. Nur die glitschige Oberfläche des Herings weckt latente Ekelgefühle, geschmacklich erweist sich Surströmming weit weniger gravierend als befürchtet. Den leicht fauligen Touch einmal ausgeblendet, schmeckt das Zeugs in erster Linie nach Salz, ein wenig nach Fisch und ein weiteres Quäntchen nach – Gülle?! Nicht wirklich schmackhaft, aber alles halb so wild! Auch die anderen Teammitglieder (außer Lars, der sich längst mit grünem Gesicht verzogen hat) greifen jetzt zur Gabel und pieksen ihr Filetstückchen auf. Sogar Tanja, strikte Vegetarierin, fischt ein wenig Lake aus der Dose für den Geschmacktstest. Und bis auf Barney, der den Surströmming nach einmal Kauen direkt wieder ausspuckt (aber er musste ja auch unbedingt das ganze Filet auf einmal in den Mund stopfen) behalten alle ihre Portion im Mund und schlucken, ohne das Gesicht zu verziehen. Der eine oder andere greift danach sogar mehrfach zu, während wir auf Whatsapp-Videos in der Rallye-Gruppe andere Teams reihenweise kotzen sehen – wir sind also entweder total harte Typen oder geschmacksnerventechnisch so versaut, dass uns selbst der Stinkefisch nicht mehr aus der Fassung bringt. Wie auch immer, den Surtsrömming können wir von unserer To do-Liste streichen. Ein zweites Mal muss es aber trotzdem nicht sein…
Da über uns der bedeckte Himmel noch immer jede Chance auf Polarlichter blockiert (über den Wolken muss dafür die Hölle los sein!), hauen wir uns gegen Mitternacht in die Betten. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag…

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