Tag 11, 5. März 2019: 60 km südlich von Petrozadovsk – St. Petersburg
Gefahrene Kilometer: 312
Fahrzeit: 4 Stunden
Landesgrenzen: keine
Temperatur am Zielort: -3° C
Klopf, klopf! Eine bemitleidenswerte Kreatur steht am frühen Morgen vor der Tür unseres V70 und blickt mit müden Augen ins Wageninnere. Weil ihr Mitfahrer Lars des Nachts im Schlaf sämtliche Wälder Russlands abgesägt hat, konnte die arme Tanja wieder die ganze Nacht kaum schlafen und macht nun mit ein wenig verzweifelten Klopfversuchen auf ihr trauriges Schicksal aufmerksam: „Tanja matt, Tanja heia“ dringt es schwach an meine Ohren, als ich meine Seitentür öffne und widerwillig aus dem warmen Schlafsack in die Kälte stolpere. Da wird wohl der Lars die erste Schicht heute übernehmen müssen, denke ich mir. Währenddessen mustere ich kritisch das Wetter. Es hat wieder zu schneien angefangen – ziemlich stark sogar. Der damit einhergehende Temperaturanstieg hat das angenehm trockene Gefriertruhenklima gegen feuchtes, typisch mitteleuropäisches Winterwetter getauscht. Ekelhaft!
Draußen auf dem Parkplatz herrscht derweil schon reges Treiben. Die anderen Fünf sind schon auf den Beinen, die Autos laufen langsam warm, und wenige Minuten später sind wir auch schon wieder auf der Straße. 300 Kilometer trennen uns noch von St. Petersburg, und die wollen wir möglichst ohne Pause und möglichst zügig runterreiten. Da der Verkehr aber immer dichter wird, je näher wir der russischen Ostsee-Metropole kommen, dazu Matsch und Schnee als natürliche Tempobremsen das Geschehen zügeln, zieht sich die Reise doch etwas länger hin als erhofft. Nach dreieinhalb Stunden stehen wir vor den Toren der Stadt, die Zar Peter der Große ab 1703 auf Sumpfland erbauen ließ. Die trist-grauen Sowjet-Plattenbauten, die uns vor den Toren Petersburgs als Erstes Willkommen heißen, hätten sich der Zar und sein Star-Architekt Terzini allerdings nicht in den abgedrehtesten Alpträumen ersinnen können. Dazu der Schneematsch auf den Scheiben und Verkehrs-Infarkt, soweit das Auge reicht: Die ersten Eindrücke der zweitgrößten Stadt Russlands sind wenig einladend.
Das ändert sich aber mit jedem Kilometer, den wir dem Stadtzentrum näherkommen. Nach und nach weichen die Platten der Randbezirke den erwarteten, kunstvoll verzierten Prachtbauten aus dem 18. Jahrhundert, und von Weitem drängen sich auch die ersten Paläste und Kirchtürme der Zarenzeit ins Bild. Unsere Aufmerksamkeit hängt jedoch in diesem Moment mehr am zähfließenden Verkehr, der uns in einer riesigen dreispurigen Blechlawine Meter für Meter weiter Richtung Innenstadt schiebt. Irgendwo nahe des Zentrums haben wir über Air BnB ein Appartement gemietet – allerdings ohne einen Parkplatz dazu. Dass dieser Umstand eher suboptimal war, hätte uns eigentlich klar sein können, immerhin hat St. Petersburg 4,9 Millionen Einwohner, und die müssen ihre klapprigen Ladas und Protz-SUV ja auch irgendwo parken. Parkraum im Zentrum ist also entsprechend rar, und so dauert es fast eine Stunde, bis wir für alle unsere Volvos einen adäquaten Ort zum Übernachten gefunden haben – in völlig unterschiedlichen Himmelsrichtungen.
Unser Domizil befindet sich mitten in einer mit prachtvollen Altbauten gesäumten Einkaufsstraße. Die unter der anvisierten Adresse firmierende Immobilie stammt jedoch eindeutig aus einer späteren Epoche, als St. Petersburg Leningrad hieß und die kommunistischen Bauherren für architektonische Ästhetik eher wenig übrig hatten. Die Haustür unseres Blocks liegt versteckt in einem Hinterhof, wo uns unsere sehr nette, aber auch ziemlich stumme Gastgeberin bereits sehnsüchtig vom vierten Stock aus zuwinkt. Nach erfolgreicher Schlüsselübergabe (der Versuch, einen aus dem vierten Stock herabgeworfenen Schlüsselbund zu fangen, kann ganz schön schmerzhaft sein) richten wir uns kurz häuslich ein, bevor uns unsere knurrenden Mägen auch schon wieder hinunter auf die Straße treiben. Nach knapp 20 Minuten Fußmarsch durch dicht rieselnde Schneeflocken entdecken wir ein schickes georgisches Restaurant. Die georgische Küche hat unsere Herzen ja schon 2016 bei der Allgäu-Orient-Rallye im Sturm erobert – und sie enttäuscht uns auch in der Zaren-Hauptstadt nicht. So lassen wir es uns mit Fleisch-Eintöpfen, Khatchapouri, kalten Platten, Wein und Wodka gutgehen, springen anschließend im Appartement reihum unter die Dusche, ruhen uns aus und machen uns dann auf zu einem ausgedehnten Spaziergang durch das nächtliche, tief verschneite St. Petersburg.
Je näher wir dem historischen Stadtkern kommen, der übrigens UNESCO-Weltkulturerbe ist, desto mehr verstehen wir, warum St. Petersburg auch das „Venedig des Nordens“ genannt wird. Dutzende Flüsse und Kanäle durchqueren die zaristischen Schlösser, Kathedralen, Denkmäler und Residenzen, die sich in ihrer architektonischen Vielschichtigkeit durchaus mit dem italienischen Original messen können. Allerdings sind sämtliche Wasserwege, die wir kreuzen, vollkommen eingeschneit und zugefroren, und sogar der mächtige Fluss Newa, der St. Petersburg durchfließt, präsentiert sich weiß bestreut in Winterstarre. Die zum eisigen Stillleben erstarrte Szenerie, gesäumt von den kunstvoll beleuchteten Fassaden der zaristischen Prunkhäuser, versprüht eine ganz eigene, fast zauberhaft wirkende Atmosphäre. Wir wähnen uns schon mitten im Reich von Disneys Eisprinzessin Elsa, als uns ein rasend schnell nahendes Dröhnen aus allen romantischen Träumereien reißt. Erschrocken springen wir rasch zur Seite: Eine Dreier-Brigade Schneeräumfahrzeuge fräst sich hinter uns den Gehweg entlang und schrubbt ohne Abbremsen an uns vorbei. Für den personell offensichtlich stark besetzten Winterdienst womöglich die letzte Runde für heute, denn mittlerweile haben sich die Schneewolken gelichtet und es hat kältetechnisch deutlich angezogen. Wir schauen auf die Uhr: Schon wieder fast Mitternacht – Zeit, den Heimweg einzuschlagen!
Da wir inzwischen alle ziemlich müde und durchgefroren sind, entscheiden wir uns, die nächstgelegene Metro anzusteuern und den Rückweg unterirdisch per U-Bahn zurückzulegen. Wie in Russland üblich, liegen auch in St. Petersburg die U-Bahnhöfe tief unter der Erde, weil sie im Kriegsfall als Atombunker der Bevölkerung Schutz bieten sollten. Die Fahrt mit der Rolltreppe hinab zum Gleis dauert mehr als zwei Minuten – nach insgesamt vier Stationen mit zwischendrin einmal Umsteigen erreichen wir eine Viertelstunde später den zuvor auserkorenen Zielbahnhof. Den letzten Rest des langen Tages lassen wir bei Bier, Cider und Whisky im Irish Pub ausklingen, das nur einen Steinwurf von unserem Schlafdomizil entfernt ist. Gegen 2 Uhr aber streichen wir endgültig die Segel. Ein langer Tag liegt hinter uns – höchste Zeit fürs Bett!